Geschichte:Hotspot der Bewegungsfreiheit

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Isadora Duncan überwand die formale Strenge der Tanzkunst, hin zum reinen Ausdruck. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Das neue Internet-Portal "Munich Dance Histories" bündelt Wissen über München als Wiege des modernen Tanzes seit Anfang des 20. Jahrhunderts und soll auch eine Diskussionsplattform sein.

Von Jutta Czeguhn, München

"Eines Tages suchte ich Stuck in seinem Hause auf, um ihn davon zu überzeugen, dass meine Kunst nicht würdelos sei. In seinem Atelier angelangt, entkleidete ich mich, zog meine Tunika an, führte meine Tänze vor ihm auf und sprach dann ohne Unterbrechung vier Stunden lang über die Heiligkeit meiner Mission und über die Entwicklungsfähigkeit des Tanzes als Kunstgattung ..." Sie muss nachhaltigen Eindruck beim Münchner Großkünstler hinterlassen haben, in ihren Erinnerungen "Mein Leben - meine Zeit" (1903) lässt Isadora Duncan keinen Zweifel, dass es ihre Überzeugungskraft war, die Franz von Stuck zu ihrem Bewunderer machte. Hatte er anfangs noch opponiert gegen den Auftritt der Duncan im Münchner Künstlerhaus, war er nun uneingeschränkt dafür. Das Debüt der amerikanischen Barfußtänzerin wurde, wie sie mit aller Bescheidenheit schreibt, "die größte Sensation Münchens seit vielen Jahren". Und die Geburtsstunde für München als der Stadt, von der aus der moderne, freie Tanz in die Welt aufbrach.

Eine These, die so steil gar nicht ist, weil eben gut belegbar. Dieser Überzeugung sind jedenfalls die Tanzhistorikerin und Choreografin Brygida Ochaim und Thomas Betz, Redakteur des Münchner Feuilletons. Zusammen mit der Tanzschaffenden Barbara Galli-Jescheck haben sie die neue, interaktive Website "Munich Dance Histories" geschaffen. Man sitzt den Dreien im Zoom-Gespräch gegenüber und hat das Gefühl, jeder von ihnen kann aus dem Stand zig Beweise beibringen für den Status Münchens als Wiege avantgardistischer Tanzformen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Mit dem Internet-Portal als Archiv und Diskussionsplattform wollen sie Wissen über dieses flüchtige kulturelle Erbe bündeln, das weit weniger erforscht ist als Münchens reiche Literatur oder Kunst, und Kontinuitäten bis in die freie Tanzszene der Gegenwart aufzeigen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war ganz Europa im Salome-Fieber. Für die digitale "Dance History Tour" kam es 2021 in den Kammerspielen zu einer filmischen Inszenierung des satirischen Gedichts "Neues von Salome" von Karl Ettlinger, mit Gro Swantje Kohlhof als Salome. (Foto: Münchner Kammerspiele)

Die Idee für die digitalen Munich Dance Histories entstand aus einem sehr analogen Projekt heraus: Im Rahmen des Dance-Festivals 2019 führte ein Fahrradparcours zu Orten, an denen das Team um Ochaim und Betz die Geschichten der frühen Tanz-Moderne wieder lebendig werden ließ. Von der Monacensia und der Villa Stuck im Osten ging es über das Theatermuseum, die Kammerspiele und das Porcia-Palais bis zum Lenbachhaus. "Die Tour kam so gut an, dass wir sie zusammen mit Barbara Galli-Jescheck 2021 weiterentwickelten", erzählt Brygida Ochaim. Sehr aufwendig mit Reenactments von damaligen Ereignissen: So rekonstruierten etwa die Tanzwissenschaftlerin Claudia Jeschke und der ehemalige Direktor des Bayerischen Staatsballetts Ivan Liška ein Duett der Schwabinger Ausdruckstänzerin Clotilde von Derp mit Alexander Sacharoff, dem ersten modernen Tänzer überhaupt, dessen kühn androgynes Porträt von Alexej von Jawlensky im Lenbachhaus hängt. Und in den Kammerspielen erinnerte man an die Salome-Welle zu Anfang des 20. Jahrhunderts mit einer filmischen Tanz-Inszenierung. Pandemiebedingt wurde aus der Dance History Tour 2021 ein digitales Projekt, das die Basis bildet für die Webseite, die nun seit Januar 2022 freigeschaltet ist.

Als Anregung für reale Spaziergänge kann man sich dort nun zunächst virtuell mit den Schauplätzen der Münchner Tanzgeschichte vertraut manchen, viele existieren heute noch, andere sind verschwunden. Wie etwa die "Bonbonniere", ein mondän ausgestattetes Kabarett-Theater, in dem später Erika Mann und Therese Giehse mit ihrer "Pfeffermühle" auftraten und noch viel später einmal das Atomic Cafe zu Hause war. Oder den "Kaim-Saal" an der Türkenstraße oder das Palais Schrenck-Notzing. Wo heute der Bayerische Bauernverband residiert, präsentierte einst Albert Freiherr von Schrenck-Notzing, ein praktizierender Parapsychologe und Förderer der Tanzkultur, die Pariser Schlaftänzerin Madeleine G.. Ein Skandal auch das.

Ausdruck sexueller Selbstbestimmung

Alexej von Jawlensky soll das berühmte Porträt des Tänzers Alexander Sacharoff spontan in weniger als einer halben Stunde gemalt haben, als der Tänzer ihn eines Abends vor dem Auftritt, bereits geschminkt und kostümiert, im Atelier besuchte. Heute hängt es im Münchner Lenbachhaus. (Foto: Rolf Haid/picture alliance/dpa)

Das München der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts war kunstsinnig, ja kunstsüchtig, sein Kulturleben im Aufdämmern der Moderne offen, neugierig und interdisziplinär. "Der Tanz war keine Marginalie sondern auf Augenhöhe mit den anderen neuen Kunstformen", sagt Brygida Ochaim. "Kein Wunder also, dass Isadora Duncan mit ihrem Auftritt 1902 im Künstlerhaus eine "Riesenwelle" auslöste, ergänzt Thomas Betz. Der Ausdruckstanz war Auflehnung gegen das klassischen Ballett, dessen unnatürliche Bewegungsabläufe. Das neue Körper- und Bewegungsempfinden der Tänzerinnen, die wie die Duncan meist barfuß und mit geschlossenen Augen auftraten, in fließenden Tuniken oder freizügigen exotischen Kostümen gekleidet, zog die Menschen in ihren Bann. Bei dieser Form des Tanzes ging es auch um sexuelle Selbstbestimmung.

Auf der Website findet sich viel historische Material; Fotos, Filmaufnahmen, Texte. Betz und Ochaim besitzen selbst umfangreiche Sammlungen über den frühen Tanz. Gute Quellen für ihre Recherchen sind ihnen aber vor allem die Archive des deutschen Theatermuseums, das Münchner Stadtarchiv, die Monacensia - und auch die juristische Bibliothek im Rathaus. Dort stießen die Tanz-Archäologen etwa auf das höchst rare Exemplar eines Buches der Reform- und Nackttänzerin Adorée Villany. 1911 stand sie wegen Obszönität vor Gericht, wurde aber freigesprochen, weil die Richter ihre Leistung im "höheren Interesse der Kunst" anerkannten.

Der einflussreiche ungarische Choreograf und Tanzpädagoge Rudolf von Laban betrieb in Schwabing eine Tanzschule, hier ist er mit Mitgliedern des Berliner Staatsopernballetts zu sehen. Von Laban war von 1930 bis 1934 Ballettdirektor der Staatsoper Berlin. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Neben den vielen Schauplätzen des Tanzes sind es also vor allem die Protagonistinnen und Protagonisten, mit denen das Team von Munich Dance Histories ihre die Hotspot-Theorie untermauert: Alle wirkten sie in München, die Duncan, Sacharoff und die Derb, die amerikanische Tänzerin Loïe Fuller und die Japanerin Sada Yacco. Auch Rudolf von Laban (1879-1958), der Bewegungsforscher und Tanztheoretiker, dessen Analysen heute noch in Tanz und Theater, aber auch in der Psychotherapie oder Physiotherapie Anwendung finden, hatte seine Schule in Schwabing.

"Wir verstehen unsere Arbeit als Mosaik", sagt Thomas Betz und spricht von "Open Content". Das Archiv sei eine Diskussionsplattform für Tanzschaffende, Pädagogen, Wissenschaftler, Archive, Museen und Institutionen. Es werde wachsen, ein immer breiteres, dichteres Bild des Münchner Tanzjahrhunderts ergeben, mit Verbindungssträngen etwa zum Modern Dance der Sechzigerjahre, zum Jazz-Tanz der Siebziger, zum Aufbruch der Freien Szene in den Achtzigern, bis zum Tanz der Gegenwart. Das Team hat viel vor, einiges davon sehr analog, auf den heutigen Bühnen der alten Tanzstadt München.

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