SZ-Adventskalender:Wie sich die soziale Lage in München gewandelt hat

Schulkinder bekommen ihre Essensration, 1947, SZ-Adventskalender

1947 bekamen diese Schulkinder ihre Essensration.

(Foto: Amerika Haus)

Der SZ-Adventskalender sammelt seit 70 Jahren Spenden für Bedürftige. Viele Probleme haben sich im Laufe der Zeit verändert, noch viel mehr sind gleich geblieben. Ein Rückblick.

Von Sven Loerzer

In überfüllten Zügen kamen die Flüchtlinge in München an, zu Tausenden. "Hier war es Ehrensache der Stadt, so gut als nur irgendwie möglich für alle die zu sorgen, die nach Verlust ihrer Habe und Existenz hier ein neues Unterkommen suchten." Was sich liest wie ein Bericht des Sozialreferats zum Jahr 2015, beschreibt die Situation nach Kriegsende 1945. Allein in den ersten drei Monaten nach Kriegsende liefen 787 Flüchtlingszüge ein, zieht 1948 der städtische Wohlfahrtsreferent Erwin Hamm, der später die Politikerin Hildegard Brücher heiratete, Bilanz. Die Stadt hatte als Folge der Luftangriffe 38 Prozent des Wohnraums verloren.

Bis Ende 1945 wurden 13 Barackenlager, vier Schulen und drei weitere Gebäude soweit hergerichtet, dass dort 7640 Flüchtlinge untergebracht werden konnten. Keine kleine Arbeit, wie Hamm anmerkt, weil fast alles fehlte, Holz, Nägel, Dachpappe, Glas und Arbeitskräfte. Und weil all das nicht reichte, wurden im Jahr darauf 10 000 Flüchtlinge in oberbayerische Landkreise verlegt. Doch 1948 wohnten immer noch 6000 Flüchtlinge in Lagerunterkünften. Und heute, 70 Jahre später? Auch da sind noch fast ebenso viele von jenen, die vor drei Jahren in Zügen ankamen und blieben, in Sammel- und Notunterkünften.

Ist es zulässig, Parallelen zu ziehen zwischen zwei so unterschiedlichen Epochen? Natürlich lassen sich die Ursachen nicht vergleichen, aber die Probleme gleichen sich: Es fehlen Unterkünfte und Wohnungen, sowohl für die einheimische Bevölkerung, als auch um die Geflüchteten dauerhaft ihren Platz in München finden zu lassen. Eine Zeitung kann das Problem nicht lösen, aber sie kann Druck machen, indem sie berichtet: Aus diesem Bewusstsein heraus, aber auch um die Hilfsbereitschaft ihrer Leser anzustoßen, setzte der Münchner Teil der Süddeutschen Zeitung 1948 auf eine besondere Form der Weihnachtsreportage, eine "Christkindlfahrt zu den Vergessenen". Das "verborgene Elend" in der Stadt zu zeigen, aber auch "ein wenig Glanz auf ein paar verhärmte Gesichter zu zaubern", hatten sich die Reporter vorgenommen, inspiriert von einem ähnlichen Projekt der New York Times.

Die Vergessenen in München, das waren Menschen, denen der Krieg besonders zugesetzt hatte: Die - heute würde man sagen: alleinerziehende - Mutter mit ihrem siebenjährigen Maxl, dessen Vater bei einem Bombenangriff ums Leben kam. Die alte Frau, 78, die dreimal ausgebombt wurde. Die Mutter, die putzen ging, um sich und ihre vier Kinder über Wasser zu halten, weil der Vater seit fünf Jahren vermisst war. Ein Flüchtling, der sich eine Hütte aus Abfallholz und Schutt errichtet hatte, damit seine Familie, von der er zwei Jahre lang getrennt war, nach München kommen konnte. Ein Kriegsversehrter, gezeichnet von den Folgen einer Schädel-Hirn-Verletzung, beide Hände amputiert.

Diese Aktion für die Vergessenen war die Geburtsstunde des "Adventskalenders für gute Werke der Süddeutschen Zeitung", der in diesem Jahr die Leser zum 70. Mal zu Spenden aufrufen wird. Obwohl sich die Form im Laufe der Jahre verändert hat, so blieb das Grundprinzip das gleiche. Und wer durch die Reportagen der sieben Jahrzehnte blättert, kann feststellen, dass sich der Kreis der Themen gar nicht so stark verändert hat, wie man meinen möchte.

150 Millionen

Euro hat der Adventskalender für gute Werke in 69 Jahren insgesamt eingenommen - nach Aufrufen im Münchner Teil und in den Regionalausgaben der SZ. Am Erfolg des Spenden-Hilfswerks sind jedes Jahr mehr als 23 000 Leser unmittelbar mit Einzahlungen beteiligt. Jeweils etwa 5000 Menschen in schwierigen Lebenssituationen kann dadurch geholfen werden.

Auch im modernen Sozialstaat bestehen weiter Lebensrisiken, wie es sie vor 70 Jahren gab. Zwar gibt es heute bei weitem mehr Hilfs- und Unterstützungsangebote, doch noch immer zeigt sich, dass überdurchschnittlich viel Alleinerziehende mit ihren Kindern in Armut leben. Schwere Verletzungen und chronische Krankheiten führen noch immer dazu, dass Menschen ihre Existenzgrundlage verlieren und auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, die aber oft nicht ausreicht. Immer mehr alte Menschen können von ihrer Rente allein in der teuren Stadt nicht leben, Familien mit mehreren Kindern geraten schnell unter die Armutsgrenze. Gerade für Flüchtlinge ist es nicht einfach, eine Wohnung zu finden und sich eine gesicherte Existenz aufzubauen.

Das Thema Wohnungsnot beispielsweise prägte von Anfang an wiederholt die Spendenaufrufe, wie auch im vergangenen Jahr. Das könnte zum pessimistischen Eindruck führen, dass sich nichts verändern lässt - aber es hat sich einiges verbessert. Etwa bei den Hilfen für Wohnungslose: Mit Hilfe des SZ-Adventskalenders ging die rollende Arztpraxis erstmals auf Tour, heute ist die Münchner Straßenambulanz ein wichtiger Bestandteil der Versorgung obdachloser Menschen.

Mit der Einführung von Hartz IV wird die Situation noch brisanter

Ein Jahr nach der "Christkindlfahrt", zu Weihnachten 1949, rief der Münchner Teil der SZ dann dazu auf, als Weihnachtspate arme Menschen zum Fest zu bescheren. Über das Wohlfahrtsamt bekam die SZ Adressen von 360 Bedürftigen: Kriegerwitwen, alte, vereinsamte Leute, Flüchtlinge, Familien mit vielen Kindern, Familien, in denen der Mann arbeitslos war. Für alle fanden sich Weihnachtspaten, die insgesamt 1281 Mark und viele Sachspenden brachten. Nicht minder erfolgreich verlief der Aufruf im nächsten Jahr: "Spendet Mäntel für Frierende". Insgesamt 761 konnten an Bedürftige verteilt werden. Bereits im Jahr 1951 nahm die Idee des Hilfswerks ihre weitestgehend heute noch gültige Gestalt an, fortan auch unter dem Namen Adventskalender. Dessen Fenster sollten täglich den Blick auf die Not der Mitbürger in der unmittelbaren Nachbarschaft lenken.

Obwohl es primär um die Hilfe für Bedürftige geht, spiegelt der Adventskalender in all den Jahrzehnten auch immer die sozialen Probleme Münchens wider: Er beleuchtet zum Beispiel in den Siebzigerjahren die Situation der Gastarbeiterkinder, die sich schwer tun zwischen den Erwartungen ihrer Eltern und ihrer Umwelt, die sie nicht akzeptiert. Das Schicksal von Heimkindern ist 1979 eines der großen Themen - in Reaktion auf die zunehmende Kritik an der Heimerziehung, die geprägt war von Herabwürdigung und fragwürdigen Erziehungsmethoden.

Der Adventskalender zeigt, einem Seismografen gleich, auch neue Probleme auf und gesellschaftliche Entwicklungen: Er beschäftigt sich 1980 mit autistischen Kindern und Jugendlichen, einer damals außerhalb von Fachkreisen noch weitgehend unbekannten Entwicklungsstörung. Im gleichen Jahr lenkt das Spendenhilfswerk aber auch den Blick auf die zunehmende Arbeitslosigkeit, die Familien mit Kindern traf. Mit der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 gewinnt das Thema noch an Brisanz, denn die Grundsicherung ist sehr knapp bemessen.

SZ-Adventskalender: Das "denkbar-Schulfrühstück" des Lehrerverbands ist die moderne Version der Schulspeisung, unterstützt vom SZ-Adventskalender.

Das "denkbar-Schulfrühstück" des Lehrerverbands ist die moderne Version der Schulspeisung, unterstützt vom SZ-Adventskalender.

(Foto: Stephan Rumpf)

Damit bleiben auch in München mehr als 21 000 Kinder von vielem ausgeschlossen, was sich Gleichaltrige leisten können. Deshalb ermöglicht der Adventskalender die Teilnahme am gemeinsamen Frühstück und Mittagessen in der Schule - die moderne Version der Schulspeisung der Nachkriegsjahre. Und lange bevor 1995 die Pflegeversicherung erste Verbesserungen für Menschen mit Behinderungen und Pflegebedürftige bringt, belegt der Adventskalender, wie dringend mehr Unterstützung nötig ist.

Neben den körperlichen Krankheiten, die zu den thematischen Klassikern bei den Spendenaufrufen gehören, wagt sich der Adventskalender Anfang der Achtzigerjahre auch an psychische Erkrankungen, zu dieser Zeit noch weitgehend ein Tabuthema, auch für viele Spender. Aber das Verständnis wächst, ein paar Jahre später engagieren sich die SZ-Leser sehr viel stärker für seelisch Kranke. In dieser Zeit kümmert sich das Hilfswerk auch um die alten Menschen von Ludwigsfeld, damit sie in ihrer Siedlung am Rande der Stadt nicht abgeschnitten bleiben. Anfang der Neunzigerjahre, als das ehemalige Jugoslawien im Krieg versinkt, vor dem viele Menschen flüchten, organisiert der Adventskalender Jahr um Jahr Hilfen für die Geflüchteten, sei es für Kinder oder Frauen aus Kriegsgebieten oder für Folteropfer. Berichte über kranke Kinder öffnen damals wie heute fast jedes Herz. Aber Themen wie Obdachlosigkeit, Langzeitarbeitslosigkeit oder häusliche Gewalt werden nicht ausgeblendet - für die Auswahl der Themen ist entscheidend, wo Hilfe benötigt wird.

"Es ist peinlich, arm zu sein, solange es als persönliches Verdienst gilt, all jene Attribute zu besitzen, die den modernen Wohlstand je nach Mode auszumachen pflegen. Also versucht man, seine Armut zu verbergen", das schrieb bereits 1968 zum 20-jährigen Bestehen des Adventskalenders Karin Friedrich, die mit ihren Sozialreportagen den Münchner Teil der SZ bis Anfang der Neunzigerjahre prägte. Ein halbes Jahrhundert später bleibt ihre Erfahrung noch immer unverändert gültig: "Reichsein ist nicht immer ein Verdienst; Armsein ist nicht selten Schicksal." Weil das immer noch so ist, sammelt der Adventskalender, entstanden in der Not der Nachkriegszeit, weiter Spenden. Aber er kämpft auch dagegen an, aus Bürgern Bettler zu machen: Spenden dürfen Rechtsansprüche auf Hilfe nicht ersetzen.

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