Zum Tod von Tiger Willi:Ordinär und derb, "weil das Leben auch so ist"

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Am Freitag wird Wilhelm Raabe in seiner Heimatgemeinde beerdigt. (Foto: Hartmut Pöstges)

Musiker Tiger Willi, mit bürgerlichem Namen Wilhelm Raabe, ist im Alter von 70 Jahren von der Bühne des Lebens abgetreten.

Nachruf von Astrid Becker

Leben heißt Leiden. Aber ohne Leid gäbe es keine Geilheit, keine Schönheit, keine Poesie - zumindest in der Philosophie eines Tiger Willi. Eines Künstlers, der für derb-brachialen Wortwitz ebenso stand wie für philosophischen Tiefgang. Ein Gratwanderer am Abgrund des Seins, wie er in Presseberichten genannt wurde. Ein Menschenfreund, ein Original und ein Gesamtkunstwerk. Eben ein Ereignis.

Vielleicht, weil er ein Mensch war, der in keine Schubladen passte. Ehrlich war er, authentisch und immer bizarr-komisch. Es konnte zum Beispiel gut passieren, dass sein Publikum Geduld haben musste, bis er sich seine Gitarre schnappte und die Vorstellung beginnen konnte: "I kumm glei, ich muaß ganz schnei no bies'ln", murmelte er dann von der Bühne herunter und verschwand noch mal kurz. Weil er immer so nervös war, wenn er auftreten musste.

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Wilhelm Raabe aus Steinebach, der "Tiger Willi", wird am Sonntag 70 Jahre alt.

Von Astrid Becker

Schüchtern wirkte dieses kräftig gebaute Mannsbild manchmal, gerade in seinen Anfängen. Nachvollziehbar war das, wenn man bedenkt, dass das, was der Tiger Willi da so vor all den wildfremden Menschen herausließ, so etwas wie ein echter Seelenstriptease war. Ordinär, derb ging es in seinen Liedern zu, nicht, weil er selbst so gewesen wäre. Sondern "weil das Leben auch so ist", sagte er immer wieder mal. Und widersprechen konnte man ihm da nicht.

Der Tiger Willi begegnete Menschen stets mit Respekt, ausgesprochener Höflichkeit und Sensibilität. Er hatte ein großes Herz für die Schwachen, die Unterdrückten und die am Leben Gescheiterten - was auch Eingang in seine Texte fand. Zum Beispiel, wenn er in "Das Leben is a Schindermatz" den Tod eines Heroinsüchtigen besang, dem der gesellschaftliche Absturz vorausging. Leise Töne schlug er da an. Ohne sich ein Urteil zu erlauben, weder über den Drogensüchtigen, den Dealer, die Prostituierte oder gar den Mörder, die ihn zu seinen Liedern inspirierten. Tiger Willi suchte vielmehr nach den Gründen, die Menschen dazu bringen, so zu handeln wie sie handeln.

Vielleicht war das so, weil er gar nicht anders konnte. Weil ihm selbst viel Schlimmes widerfahren ist. Der Tiger Willi, der im wirklichen Leben Wilhelm Raabe hieß, ist in Steinebach am Wörthsee aufgewachsen. Der "Kirchenwirt" direkt im Zentrum des Ortes gehörte seiner Familie seit 1911. Tiger Willis Großvater Carl hatte das Lokal erworben, in dem später, 1947, der Tiger Willi geboren wurde. Im Alter von 15 Jahren verliert er den Vater, mit 18 die Mutter.

Der Tiger Willi hatte zu dieser Zeit schon fünf Jahre Kinderheim hinter sich: "Eine Folter war das", erzählte er einmal. "Da hast erfahren, was Christentum heißt. Die Sünd'n haben's Dir da eingeredet, unglaublich." Nach dem Tod der Eltern wurde das Lokal verpachtet. Doch für den Tiger Willi blieb es sein Wohnzimmer, sein Zuhause. Oft saß er dort, erzählte von früher. Von prominenten Gästen wie Franz Beckenbauer oder dem RAF-Mitglied Günter Sonnenberg, der 1977 im Lokal übernachtete.

Vielleicht war seine genaue Beobachtungsgabe seiner Kindheit, seiner Jugend, seinem Erwachsenenleben in einem Wirtshaus zuzuschreiben. Dort begriff er schnell, dass Menschen anders sind, als sie sein sollten. Sondern dass sie getrieben sind von ihren Begierden und besessen davon, kaputt zu machen, was sie eigentlich lieben.

So muss er es selbst empfunden haben, damals, als er sich gezwungen sah, den Beruf des Metzgers zu ergreifen. Einer wie er, der keiner Fliege etwas zu Leide tun konnte. Zwischen Schinken und Kotelett hätten sich alle Belange des menschlichen Lebens abgespielt, hat er mal über diese Zeit gesagt. Er selbst überstand das alles mit Hilfe der Philosophie. Mit Schopenhauer maßgeblich. Und auch mit Nietzsche. Bisweilen stand er damals hinter der Theke, schnitt Bierwurst oder Schnitzel, erklärte dabei den dialektischen Materialismus oder rezitierte den Faust. Klar, dass so jemand eine andere Bühne als eine Fleischerei brauchte.

Mit 27 Jahren holte er das Abitur nach und studierte Geschichte, Kunstgeschichte, Philosophie und Sozialpädagogik. Seine Metzgerei in Steinebach gab er ab und betreute stattdessen junge Handwerker im Wohnheim des Bayerischen Bauindustrie Zentrums in Stockdorf. Dort trat er auch auf - weil die Handwerker seine Lieder mochten. Vor allem den "Isele Rock", den er schon mit 19 Jahren geschrieben hatte, benannt nach seinem Lehrherrn.

Viele andere Lieder und Gedichte sollten folgen, die er in seinem Wirtshaus zum Besten gab, aber auch auf vielen Bühnen in der Stadt. Etwa dem Heppel&Ettlich oder dem Theater im Fraunhofer. Fünf CDs hat er aufgenommen. Kritiker lobten ihn als Philosophen, der die fleischliche Lust auf recht eigene, teils skurrile, teils recht direkte Art thematisierte. Gleich mehrmals wurde er dafür ausgezeichnet - unter anderem 2012 mit dem Tassilo-Preis der SZ.

2011 wurde bei ihm Alzheimer diagnostiziert. Am Sonntag ist der Tiger Willi von der Bühne des Lebens abgetreten. Er wäre am 9. April 71 Jahre alt geworden. Am Freitag, 11 Uhr, soll er in seiner Heimatgemeinde beerdigt werden. Er hinterlässt seine Ehefrau Andrea.

© SZ vom 13.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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