Auschwitz-Befreiung:"Die Traumata werden von Generation zu Generation weitergegeben"

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Im Konzentrationslager Auschwitz wurden mehr als eine Million Menschen ermordet. Die Gedenkstätte auf dem früheren Lagergelände sowie Gedenktage wie der 27. Januar halten die Erinnerung an das Grauen am Leben. (Foto: Omar Marques/Getty Images)

Wie soll man an den Holocaust erinnern? Und was hat sich für Juden in Deutschland seit dem Krieg in Nahost verändert? Anlässlich des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus wird in Wörthsee darüber debattiert.

Von Linus Freymark, Wörthsee

27. Januar 1945 - die 322. Infanteriedivision der Roten Armee befreit das Konzentrationslager Auschwitz. Die Soldaten sind schockiert von dem Grauen, das die Nazis dort verübt haben. Der Kameramann Alexander Woronzow begleitet die sowjetischen Kämpfer auf ihrem Weg zum Sieg gegen Hitler-Deutschland, in einem Dokumentarfilm erinnert sich Woronzow 1985 an das, was er an jenem 27. Januar und den darauffolgenden Tagen in Auschwitz gesehen hat. "Unseren Augen bot sich ein schreckliches Bild", erzählt er. "Auf den Pritschen lagen Menschen ... Skelette schon, mit Haut überzogen und abwesendem Blick. Es war schwer, sie ins Leben zurückzuholen."

Mehr als 50 Jahre später, Bonn, Deutscher Bundestag, Roman Herzog tritt ans Rednerpult. In seiner Ansprache unterstreicht der damalige Bundespräsident die Bedeutung der Erinnerungskultur an die Gräueltaten des NS-Regimes. "Die Erinnerung darf nicht enden", sagt Herzog. Dann erklärt er den 27. Januar zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus.

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Seitdem finden an diesem Tag jedes Jahr zahlreiche Veranstaltungen statt, die an das Leid der Opfer des Nationalsozialismus erinnern. Neben zentralen Gedenkakten tragen dazu auch zahlreiche kleinere, regional ausgerichtete Vorträge, Diskussionen und Ausstellungen bei - so wie an diesem Samstag in Wörthsee. Unter dem Titel "Nie wieder ist jetzt! Jüdisches Leben im heutigen Deutschland" lädt die Gemeinde zu einem Podiumsgespräch. Auf der Bühne sitzen werden Eva Ehrlich, die Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Beth Shalom, Andrea Livnat, Chefredakteurin des deutsch-jüdischen Onlineportals Hagalil und Thies Marsen, Moderator und Antisemitismusexperte des Bayerischen Rundfunks.

Worum also geht es dem Trio konkret bei der Veranstaltung? Klar, zum einen sei da das Gedenken an die historischen Ereignisse, sagt Ehrlich. Zum anderen gehe es aber auch um die gegenwärtige Situation der Jüdinnen und Juden in Deutschland, die sich seit dem Angriff der Hamas und dem Krieg in Nahost weiter verschlechtert habe. "Der Antisemitismus war immer da", erklärt Ehrlich. Nach dem 7. Oktober aber trete er häufiger und offener zutage als zuvor. Auch Marsen sieht einen "grassierenden Antisemitismus" und verweist auf die jüngste Statistik des Bundeskriminalamts: Die Behörde hat allein zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 22. Januar dieses Jahres mehr als 2200 antisemitisch motivierte Straftaten registriert.

Zum Vergleich: Im gesamten vergangenen Jahr gab es etwa 2300 Übergriffe. Es sei für Juden in Deutschland nun "noch mal eine Spur gefährlicher", sagt Marsen. Vielen Menschen fehle es an Empathie für die Situation der Juden. Eine Einschätzung, die auch der Antisemitismusbeauftrage der Bundesregierung, Felix Klein, teilt. Die Situation der Juden errege "weit weniger Mitgefühl und Solidarität in der Gesellschaft als ich es für notwendig halte", erklärte Klein kürzlich.

Eva Ehrlich ist die Vorsitzende der Gemeinde Beth Shalom. (Foto: Catherina Hess)
Thies Marsen erkennt einen "grassierenden Antisemitismus", der seit dem 7. Oktober noch offener zu Tage tritt. (Foto: Günther Reger)

Gleichzeitig müsse man jedoch festhalten, dass die Lage hierzulande im europäischen Vergleich noch verhältnismäßig gut sei, ergänzt Andrea Livnat. Gedenktage wie der 27. Januar seien jedoch essenziell dafür, die Erinnerung an das Geschehene wachzuhalten und die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen. Solche Anlässe seien schließlich eine gute Gelegenheit, über die aktuelle Situation und über Lehren sowie die Einflüsse der Geschichte zu sprechen. "Die Traumata des Holocaust werden ja von Generation zu Generation weitergegeben", sagt Livnat.

Für sie und ihre Kinder, also die Nachkommen der Shoah-Überlebenden in dritter und vierter Generation, spiele das nach wie vor eine große Rolle. Würde man mehr über das Jetzt sprechen, ohne jedoch das Geschehene zu vergessen, dürfte sich laut Livnat auch das Interesse an der Situation der Juden in Deutschland wieder erhöhen - gerade bei Jugendlichen. "Ständig über die Vergangenheit zu reden, ist öde", findet Livnat.

Auch Roman Herzog hat diese Notwendigkeit erkannt. In seiner Rede an jenem 27. Januar 1996 erklärte er: Die Erinnerung müsse "auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirkt".

Auch darum geht es am Samstag in Wörthsee.

Das Podiumsgespräch beginnt am Samstag, 27. Januar, um 19 Uhr im Sitzungssaal des Rathauses in Wörthsee. Einlass ist ab 18.30 Uhr, wegen der Sicherheitsvorkehrungen werden Besucher gebeten, frühzeitig zu kommen. Flankiert wird die Veranstaltung von der Ausstellung "Bis gleich, Isaak! - Jüdische Deutsche an ihren Lieblingsplätzen" des Fotokünstlers Noah Cohen , die noch bis zum 16. Februar zu sehen ist.

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