Asylpolitik:"Der Schwung von 2015 ist weg"

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Claudia Steinke ist gebürtige Rheinländerin. Seit 2010 wohnt sie in Tutzing, seit 2017 koordiniert sie den dortigen Helferkreis. (Foto: privat)

Während sich der Landkreis Starnberg auf die Ankunft Hunderter neuer Geflüchteter im Herbst vorbereitet, geht das Sterben im Mittelmeer weiter. In Tutzing wollen sie dem nicht zusehen - und gehen nun abermals in die Offensive.

Interview von Viktoria Spinrad, Tutzing

Es waren aufgeheizte Wochen, als zu Jahresbeginn klar wurde, dass der Landkreis Starnberg wieder mehr Geflüchtete wird aufnehmen müssen. Während sich Tutzing, Feldafing und Wörthsee nun leise auf die Ankunft weiterer Menschen vorbereiten, sterben weiter regelmäßig Menschen im Mittelmeer. Um dem entgegenzutreten, sammelt der Helferkreis mit "Tutzing hilft im Mittelmeer" seit Jahren Geld für Medizin, Bildung und Seenotrettung vor Ort. So auch an diesem Montag wieder, wenn Kulturschaffende wie der Kabarettist Christian Springer in der Starnberger Schloßberghalle auftreten. Anlass für ein Gespräch mit der Koordinatorin des Tutzinger Helferkreises Claudia Steinke - über Ängste im Ort, Lehren aus 2015 und die Frage, ob Tutzing das nochmal schafft.

SZ: "Es wird ein hartes Stück Arbeit, aber wir ziehen alle an einem Strang", haben Sie vor einem halben Jahr gesagt. Seitdem ist es ruhig geworden um das Thema Asyl. Im November soll die neue Tutzinger Containerunterkunft in Betrieb gehen. Gibt es so etwas wie einen gemeinsamen Strang überhaupt noch?

Claudia Steinke: Unser Kernteam von acht Leuten arbeitet nach wie vor gemeinsam. Derzeit haben wir zudem noch etwa zehn Helferinnen und Helfer, die Menschen betreuen. Das ist zwar deutlich weniger als früher, aber es war weniger Bedarf. Helfer altern, andere werden krank, manche bekommen ein Enkelkind. Zeitgleich engagieren sich viele stillschweigend, indem sie Menschen aus der Ukraine bei sich aufgenommen haben. Aber ja, der Schwung von 2015 ist weg.

Viele Helfer waren überfordert und desillusioniert, weil nichts voranging.

Das trifft weniger auf Tutzing zu. Und die Netzwerke aus der Zeit bestehen noch, was ein großer Vorteil ist. Über unseren Verteiler erreichen wir 250 Leute. Zuletzt haben wir darüber eine Wohnung für eine ukrainische Familie aus dem Beringerheim gefunden und komplett eingerichtet.

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Derweil wurde in Tutzing gegen eine Containerunterkunft für Asylsuchende aus dem Nahen Osten und Afrika auf dem alten Minigolfplatz mobil gemacht. Viele befürchteten, sie seien dort dann nicht mehr sicher. Andere sagten, der Schuttlärm würde Geflüchtete retraumatisieren. Ist das scheinheilig oder nachvollziehbar?

Die Ängste sind teil sehr diffus. Natürlich sind alle Fälle, in denen Asylsuchende gewalttätig werden, tragisch und entsetzlich. Jeder Fall ist einer zuviel. Eine Containerunterkunft impliziert aber nicht, dass die Kriminalität mit einem Mal in die Höhe schnellt.

Am Ende haben die Tutzinger Klosterschwestern das Standort-Dilemma aufgelöst. Aber auch hier gibt es Bedenken. "Vielleicht bekommen wir hier Krach vor die Tür", sagte die damalige Priorin Ruth Schönenberger.

Die Schwestern sind konstruktiv und mutig vorgegangen. Ein tolles Beispiel dafür, wie Kirche und Glaube praktisch in die Welt getragen werden.

Aus 2015 wurde viel gelernt. In den Containerunterkünften sollen Familien unter sich bleiben können und Platz für Sozialdienste entstehen. Turnhallen hat der Landrat derweil eine Absage erteilt. Der richtige Weg?

Auf jeden Fall. Turnhallen sind keine adäquate Unterkunft für Menschen. Sie wiegeln Asylsuchende und Einheimische gegeneinander auf. Dabei haben gerade Kinder nun wirklich genug Einschränkungen gehabt. Im Container hingegen werden wir Platz für den Helferkreis und Deutschunterricht bekommen. Das sind ganz andere Voraussetzungen als in der früheren Tutzinger Zeltunterkunft.

Seit dem Jahr 2014 sind nach offiziellen Zahlen mehr als 26 000 Geflüchtete im Mittelmeer ertrunken. (Foto: Fabian Melber)
Zwischen 2015 und 2016 waren auf dem alten Tutzinger Volksfestplatz bis zu 128 Geflüchtete untergebracht. Anwohner monierten Dreck, Lärm sowie Flirtereien mit den Mädchen aus einem anliegenden Schutzhaus. (Foto: Landratsamt Starnberg)
Entsprechend negativ fielen die Reaktion aus, als der anliegende Minigolfplatz Anfang dieses Jahres zum Standort für eine neues Containerwohndorf erkoren werden sollte. Viele stellten sich in einer Petition dagegen. (Foto: Franz Xaver Fuchs)
Im Klostergarten und auf dem Parkplatz des Benediktinerinnenklosters in Tutzing sollen Container für Flüchtlinge aufgestellt werden. (Foto: Arlet Ulfers)
Auch die Gilchinger Containeranlage in der Landsberger Straße soll erweitert werden. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Viele bemängeln eine Zweiklassengesellschaft unter den Geflüchteten. Hier die Ukrainer, die sofort bürgergeldberechtigt sind und sich die Zähne machen lassen können, dort die Menschen, die seit 2015 auf engstem Raum in Sammelunterkünften leben und stets ihre Aufenthaltsberechtigung verlängern lassen müssen. Wie lässt sich diese Diskrepanz und der daraus resultierende Sozialneid auflösen?

Der pragmatische Ansatz bei den Ukrainern ist richtig und wunderbar. Aber für die Syrer beispielsweise wäre dieser Weg der Massenzustrom-Richtlinie ( Anm. d. Red.: automatischer Schutz für eine bestimmte Gruppe) ja genauso möglich gewesen - gerade auch, was eine Arbeitserlaubnis angeht. Vielfach wäre mehr möglich gewesen. Diejenigen, die schon länger hier sind, fühlen sich dann eben noch unerwünschter als vorher.

Zugleich wächst die Konkurrenz auf dem umkämpften Starnberger Wohnungsmarkt. Manche wohnen seit vielen Jahren in Containern. Gleichzeitig ist der Landkreis nach dem Königsteiner Schlüssel in Zugzwang. Wie sinnvoll ist ein Verteilsystem, das sich vor allem nach der Wirtschaftskraft richtet?

Hier im Landkreis Starnberg sind die Jobs, doch der Wohnraum liegt eher in den strukturschwachen Gebieten. Geflüchtete brauchen aber beides, Arbeit und Wohnung. Da eine Gerechtigkeit herzustellen, ist schwierig.

Die Frage, ob auch Asylsuchende bereits arbeiten dürfen sollen, ist ein großer Streitpunkt. Wie schlägt sich der liberale Kurs des Landrats in der Praxis nieder?

Im Landkreis hat sich viel getan. Viele der Geflüchteten in Tutzing haben eine Ausbildung gemacht und eine Anstellung gefunden, zum Beispiel beim örtlichen Schreiner oder Raumausstatter. Das ist auch gut so. Solange Gaststätten wegen Personalmangels an zwei Tagen in der Woche zu sind, sollte niemand etwas dagegen haben, Geflüchtete arbeiten zu lassen. Es ist eh schon viel zu viel Potenzial vergeudet worden. Gleichzeitig ist es komplett unsinnig, in Brasilien oder auf den Philippinen um Arbeitskräfte zu werben, wenn wir arbeitswillige Menschen bereits bei uns haben.

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Von Patrizia Steipe

Viele der Menschen sind Analphabeten.

Auch sie können etwas beitragen, und sei es als Hilfskräfte in einer Werkstatt oder im Lager. Oftmals sind gerade diese Menschen besonders lernwillig.

Die EU wählt zunehmend den Abschottungsweg. Grad in Bayern heißt es oft, man wolle nicht Menschen mit falschen Vorstellungen "anlocken". Zu Recht?

Wir haben die Menschen die ganze Zeit nicht arbeiten lassen, und sie sind trotzdem gekommen. Es sind die Situationen in den Ländern, die die Menschen wegtreiben, nicht umgekehrt. Sie sehen für sich zuhause keine Perspektive, und weil es keine legalen Wege gibt, machen sie sich eben illegal auf. Selbst dann, wenn mal wieder ein Boot mit 600 Menschen gesunken ist.

Der Kabarettist Christian Springer tritt beim Starkbierfest am 2. März auf. (Foto: Franz Xaver Fuchs/)
Genauso wie Angela Ascher, hier als Singspiel-Double der heutigen Landtagspräsidentin Ilse Aigner auf dem Münchner Nockherberg. (Foto: Stephan Rumpf)
Dazu kommt die künstlerische Sprecherin Julia Cortis. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Auf der anderen Seite der Fluchtroute verliert das Geld an Wert, sieht sich die Mittelschicht zunehmend bedroht. Was macht das mit der Spendenbereitschaft im reichen Landkreis Starnberg?

Im Moment sitzt das Geld überhaupt nicht mehr locker. Das ist verständlich, auch aus emotionaler Sicht. Wenn das Flüchtlingslager Moria brennt oder Russland die Ukraine angreift, dann macht das etwas mit den Menschen. Dann wird gespendet und geholfen. Der Mensch kann aber nicht dauerhaft im Betroffenenmodus sein. Im Moment ist das Spendensammeln mühsam.

Was bedeutet das für die Arbeit der NGOs, die Nichtregierungsorganisation, die von "Tutzing hilft im Mittelmeer" aus unterstützt werden?

Alle von uns unterstützten NGOs sind klein und arbeiten gerade am Limit. Einige Hilfen mussten eingestellt werden. Viele der Menschen sind traumatisiert, bekommen aber kaum Hilfe. Die "Medical Volunteers" benötigen Geld für grundlegende Dinge wie Verbandsmaterial, medizinische und psychologische Versorgung.

Der ehemalige Lifeline-Kapitän Claus-Peter Reisch hat in der Türkei ein rollendes Klassenzimmer gegründet.

Damit konnten bereits Kinder in das türkische Schulsystem integriert werden. Nun sammeln wir Geld für einen zweiten Bus. In anderen Lagern stehen die Kinder an der Straße, wenn der Bus vorbeifährt - auch sie möchten beschult werden. Das zerreißt ihm das Herz.

Nach dem Sommer wollen Sie den Helferkreis neu aufstellen. Wer wird gesucht?

Wir sind für jeden dankbar, der oder die etwas Zeit und seine Talente einbringt. Manche sind prädestiniert, sich mit Kindern zu beschäftigen, andere können super Deutschunterricht geben oder kennen sich mit Bürokratie aus. Es muss aber auch bei jedem ins Leben passen. Helfen heißt nicht, dass man mit einem Mal sein anderes Leben aufgibt.

Die Baugenehmigung ist durch, im November soll das Containerdorf an der Hauptstraße stehen. Schafft Tutzing das?

Wir haben keine Alternative. Irgendwie werden wir das schon wuppen. Ich sage immer: Gegen etwas zu sein, kostet ziemlich viel Energie. Positive Energie aber kommt zurück. Das hält uns am Laufen.

Bei der Benefizveranstaltung "Kultur hilft im Mittelmeer" treten am Montag, 10. Juli, um 19 Uhr der Kabarettist Christian Springer, die Schauspielerin Angela Ascher und die Moderatorin Julia Cortis in der Starnberger Schlossberghalle auf. Tickets gibt es für 35 Euro über die Schlossberghalle, in der Tutzinger Buchhandlung "Held", unter kontakt@oeut.org sowie an der Abendkasse.

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