Erinnerungen ans Ende des Zweiten Weltkriegs:Transformation "zwischen Hölle und Normalität"

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Befreier und Befreite: Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs - hier eine Aufnahme aus den letzten Kriegstagen 1945, als amerikanische Truppen KZ-Häftlinge befreiten - haben durch den Krieg in der Ukraine wieder einen aktuellen Bezug. (Foto: Repro: Georgine Treybal)

Historikerin Marita Krauss referiert angesichts eines bedrückend aktuellen Bezugs über die schweren Zeiten in Starnberg im Frühjahr 1945.

Von Katja Sebald, Berg

Als Kulturveranstalterin Elisabeth Carr mit den Planungen für einen Abend zur "Klaviersonate 27. April 1945" von Karl Amadeus Hartmann begann, lagen die Schrecken des Krieges in weiter Vergangenheit. Es sollte eine Veranstaltung zum Gedenken an die Menschen werden, die in den letzten Apriltagen des Jahres 1945 auf den sogenannten Todesmärschen starben. Jetzt wurde daraus ein mehr als bewegender Abend für den 27. April 2022 - ein Zusammenrücken und gemeinsames Einstehen für die Menschen, die 77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Schrecken eines neuen Krieges erleben.

"Auch heute sind Menschen auf der Flucht, auch heute werden Kriegsverbrechen begangen", sagte die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger in ihrem Grußwort. Nachdrücklich wies sie darauf hin, dass der russische Präsident mit der Begründung, die Ukraine "entnazifizieren" zu wollen, einen Angriffskrieg begonnen habe. Tatsächlich aber habe die Familie des heutigen ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu den Opfern des NS-Regimes gehört. "Wir müssen uns erinnern, um das Heute richtig einordnen zu können", sagte sie. Historikerin Marita Krauss gab in ihrem Vortrag ein anschauliches Bild jener "Zwischenwelten" im Frühling 1945: Sie sagte, die offiziellen Berichte der deutschen Behörden seien in den letzten Kriegstagen verstummt, amerikanische Stellen berichteten erst ab 1. Juni. Für die befreiten Häftlinge aus den Konzentrationslagern war diese Zeit eine Phase der Transformation "zwischen Hölle und Normalität", wie ein Holocaust-Überlebender es formulierte.

Historikerin Marita Krauss. (Foto: Nila Thiel)

Noch bevor es Anfang Mai zu ersten Begegnungen mit den vielerorts als Befreier erlebten amerikanischen Soldaten kam, noch bevor man den ersten dunkelhäutigen GI sah, Kinder die erste Orange oder den ersten Kaugummi ihres Lebens kauten, war der Krieg Ende April 1945 auch nach Starnberg und in die Dörfer gekommen. Auf Starnberg hatte es in sechs Kriegsjahren nur zwei Luftangriffe gegeben. Jetzt aber, erläuterte Krauss, kam es auch hier zu einem "schroffen Nebeneinander" jener, die "Verteidigung bis zuletzt" forderten, und "dem sehnsüchtigen Wunsch aller Vernünftigen nach einem Ende der Kämpfe": Die Starnberger Hitlerjugend sollte noch in den Kampf geschickt werden. Segelschullehrer Karl Josef Baasel und Anton Dreher (Bootswerft Rambeck) brachten die Jungen kurzerhand auf der Marieninsel in den Osterseen in Sicherheit, ihre Waffen wurden im See versenkt. Gleichzeitig jagte die Waffen-SS die Würmbrücke in Percha in die Luft - nur wenige Minuten vor dem Einmarsch der Amerikaner.

"Den Starnbergern sieht man an, dass sie das Entsetzliche nicht begreifen."

Auch die Widerstandsbewegung "Freiheitsaktion Bayern" agierte in diesen Tagen praktisch aus dem Landkreis Starnberg heraus. Einige der Widerstandskämpfer hatten sich im "Jägerhof" in Wangen einquartiert. Die Zerstörung der Nachrichtenzentrale des Wehrkreiskommandos, die in der Villa de Osa in Kempfenhausen untergebracht war, gehörte zu ihren Zielen. Zeitgleich wurden in den Nächten Tausende von Häftlingen aus Dachau über Krailling, Gauting, Starnberg und Berg in Richtung Bad Tölz getrieben. Die meisten Menschen, die diesen "Todesmarsch" vom Fenster aus beobachteten, wurden das erste Mal unmittelbar mit KZ-Häftlingen und den brutalen Wachleuten konfrontiert. Krauss zitierte einen Zeitzeugen: "Den Starnbergern sieht man an, dass sie das Entsetzliche nicht begreifen. Es ist wie ein aus einer fremden Welt hereingebrochenes Ereignis." In Kempfenhausen erlebte der Komponist Karl Amadeus Hartmann diesen Zug der gepeinigten Menschen am Abend des 27. April 1945. Unter diesem Eindruck schrieb er die mit diesem Datum bezeichnete Klaviersonate.

Verarbeitete die Schrecken des Krieges und den "Todesmarsch" der KZ-Häftlinge durch Kempfenhausen in der "Klaviersonate 27. April 1945": Komponist Karl Amadeus Hartmann, hier mit Frau und Kind. (Foto: Karl Amadeus Hartmann Gesellschaft)

Am Ende hätte es dann keines einzigen Wortes bedurft, um das tiefe Erschrecken und die eindringliche Mahnung zu beschreiben, die von dem Musikstück ausgeht. Die Starnberger Pianistin Lauriane Follonier hatte sich intensiv mit Hartmanns Komposition auseinandergesetzt. Das gespenstisch monotone Klappern der Holzschuhe, metallisches Klirren, Schläge und Schüsse, aber auch Verzweiflung, Angst und schließlich eine ganz leise Hoffnung auf eine bessere Zukunft liegen in dieser ernsten und mehr als berührenden Musik.

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