Zeitgeschichte:Geländer aus Stacheldraht

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Die Gemeinde Seefeld veröffentlicht ein neues Buch: Die Chronik beleuchtet Ereignisse des Ersten Weltkriegs aus lokaler Perspektive. (Foto: Patrizia Steipe)

Die Gemeinde Seefeld hat den zweiten Band zu ihrer Ortsgeschichte veröffentlicht: "Kriegszeiten in Oberalting und Umgebung 1914 bis 1918".

Von Patrizia Steipe, Seefeld

Im Jahr 1918 werden Jungen des Jahrgangs 1900 in den Ersten Weltkrieg eingezogen. "Diese blutjungen Menschen mit knabenhaften Gesichtern und das nervenzerrüttende Kriegswüten! Schrecklichere Gegensätze kann man sich nicht denken." Franz Krämer, Oberaltinger Oberlehrer, Vorstand des Männergesangsvereins Eintrachtshausen, schrieb dies in seiner Vereinschronik. Der ledergebundene Foliant wiegt mehrere Kilos und umfasst 400 Seiten, die der Oberlehrer mit Eintragungen, Fotos, Zeitungsausschnitten, Zeichnungen und anderen Zeitdokumenten versehen hat. Nachdem die Gemeinde Seefeld vor vier Jahren Band 1 (1900 bis 1914), veröffentlicht hat, folgt jetzt Band 2: "Kriegszeiten in Oberalting und Umgebung 1914 bis 1918".

Dazu wurden die dicht beschriebenen Seiten von Archivarin Evilyn Ecker und ihrem ehrenamtlichen Helfer Gerhard Birkholz akribisch transkribiert. Keine einfache Aufgabe, denn Krämer hat seine Eintragungen in altdeutscher Handschrift, der sogenannten Kurrentschrift verfasst. Um die Seiten besser entziffern zu können, wurden sie abfotografiert und digitalisiert. So konnten schwierige Worte zur besseren Lesbarkeit am Computer vergrößert werden. Für falsch geschriebene Fremdworte oder in Vergessenheit geratene Ausdrücke, hat es detektivischer Recherchearbeit bedurft, um herauszufinden, was gemeint war. Und auch inhaltlich waren die Berichte von der Front harte Kost. "Das hat uns mitgenommen", so Ecker.

Die Eintragungen beginnen Weihnachten 1914: Ausführlich schreibt Krämer über die Fahnenweihe des Männergesangsvereins. Doch der Erste Weltkrieg wirft seine Schatten auf die Gemeinde. Bei einer Krieger-Kinderbescherung am selben Tag wurden 135 Kinder aus den Dörfern bedacht. Bei den Worten von Pfarrer Fürst "rollte bei den erschienenen, tief ergriffenen Kriegerfrauen Träne um Träne über das kummerdurchfurchte Gesicht...", beobachtet der Chronist.

Seine Sangesbrüder hatte er aufgefordert, von der Front zu schreiben, und auch deren Familien brachten ihm die Feldpost. Diese Post verleihe der Chronik eine bedrückende Authentizität. Am 28. Januar 1915 heißt es beispielsweise: "Von Jakob Loder kam heute aus Nordfrankreich eine Feldpostkarte, die in schlichten Worten von den Leiden und Beschwernissen des Feldgrauens ein gar überzeugendes Bild entwirft. 'Vordere Linie - starkes Infanterie- und Kanonenfeuer, in Schützengräben im Wasser bis über den Stiefeln - kalter Wind und Regen - Wer's nicht selbst mitmacht, der glaubt es nicht!'"

Archivarin Evilyn Ecker (li) und Seefelds Bürgermeister Klaus Kögel bei der Präsentation der neuen Seefelder Chronik. (Foto: Patrizia Steipe)

Anfangs waren viele Karten noch euphorisch. "Wir feierten den Russenrückzug mit einem dreifachen Hurra!", hieß es 2014. Der Krieg wird als ehrenvolle, heilige und gerechte Sache verklärt. Der Glaube an ein baldiges Kriegsende ist allgegenwärtig. Doch im Februar 2015 verzeichnet Seefeld seinen ersten Gefallenen. Maurermeister August Gröber aus Oberalting starb den "Heldentod fürs Vaterland". Der 34-Jährige hinterließ "eine Witwe mit drei unmündigen Kindern".

"Wäre es doch endlich aus mit diesem scheußlichen, wilden Krieg."

Karikaturen, Sprüche, Witze und Galgenhumor ziehen sich durch manche Eintragung. Über die "Vorzüge" im Schützengraben in den Vogesen schreibt Ende 1915 Lehrer Wanninger: "Aus dem Schützengraben kannst du (...) nicht hinausfallen. Wenn doch, ist ein Geländer aus Stacheldraht vorhanden". Die Berichte werden zunehmend ernster: "Im Schützengraben stehen wir bis zum Bauch herauf im Dreck... Die vollen sechs Tage und Nächte nichts geschlafen, immer nass und kalt in den Stiefeln, die Uniform nass, kein Unterstand, die Verpflegung sehr schwierig zu beschaffen... Ein Mann ist gestern im Graben im Dreck erstickt...". Am 22. Juni 1916 schreibt Krämer: "Wäre es doch endlich aus mit diesem scheußlichen, wilden Krieg."

Während die Männer eingezogen werden, müssen in der Heimat Zwangsarbeiter bei der Feldarbeit helfen. In Gut Mischenried ziehen 1916 rund 100 Russen in das Gefangenenlager, die bei der Aubachentwässerung eingesetzt werden. "Diese Russen kultivieren - die freien Russen in Ostpreußen verwüsten: Es gibt eine ausgleichende Gerechtigkeit", findet Krämer. Immer wieder versuchen Gefangene zu flüchten. Die Strafen sind hart: "In Mischenried, im finsteren Kartoffelkeller verbüßt gerade ein Franzose 28 Tage strengen Arrest. Brot und Wasser und kein Licht, zwischen feuchten Wänden - alle vier Tage - der sogenannte "gute Tag" - kommt er heraus, taumelnd, wie ein Betrunkener, bekommt dann die sogenannte Russenkost - Kartoffel und Reisbrei - kein Fleisch - die Kellerluke bleibt geöffnet - um dann wieder vier Tage zuzufallen."

Erinnerungen aus Seefeld: Der ledergebundene Foliant wiegt mehrere Kilos und umfasst 400 Seiten, die der Oberlehrer mit Eintragungen, Fotos, Zeitungsausschnitten, Zeichnungen und anderen Zeitdokumenten versehen hat. (Foto: Patrizia Steipe)

Krämer ist aber auch ein feinsinniger Poet und Wetterbeobachter. Am 31. Januar 1915 schreibt er: "Viel viel Schnee und in der Nacht von gestern auf heute bei Vollmondschein 10 bis 14 Grad Kälte. Das ist nun echtes Winterwetter. In dieser magischen Beleuchtung kam man sich in der Nacht vor, als stände man in einem Märchenland - so glitzerte und schimmerte die Schneelandschaft in blauweißem Lichte..."

Die Feldpost wird derweil immer spärlicher. Vereinsmitglied Josef Kohlhund ist bereits im Herbst 1915 gefallen. "In der Kirche kniete weinend und von Niemand in ihrer Trauer gestört, die Heldenmutter, die brave Frau Kohlhund, und beklagte den Tod ihres ältesten Sohnes".

Es gibt aber auch schöne Berichte. Am 11. März 1915 landet ein Heißluftballon "mit vier Herrn in Uniform" zwischen Unering und Drößling. "Nun kam das Lustigste. Verschiedene Kinder und auch Erwachsene durften die Gondel besteigen und etwas in die Höhe fahren", notiert der Chronist. Im August ist es ein Zeppelin, der "vom Bahnhof quer über das Aubachtal fährt", und alle begeistert. "Der Anblick des Schiffes ist so wunderbar, dass man nur bedauert, es nicht festhalten zu können; denn allzu schnell verschwindet es hinter dem Griesbergwald".

Im September 1915 wird um Kupfer, Messing und Eisen gebeten. "Alte Kupfereimer, Backformen und Kannen aus guter, alter Zeit wurden neben Metallabfällen, ausgebrannten Wassergrandeln und riesigen Käsekesseln angesammelt". Für ein Kilo Reinkupfer wurden vier Mark bezahlt. Ein Messinggusslüster, "ein wohl einst mit 200 Mark bezahltes Prachtstück" errang dagegen keinen Preis. Der Schätzer "warf das Prachtstück, einst der Schmuck des Salons eines reichen Neusteinebachers, zum Altmessing".

Den Ausflüglern ist nichts zu teuer, "wenn sie nur zu essen bekommen".

Hohe Lebensmittelzwangsabgaben belasten die Landwirte. Die Bevölkerung bekommt ihre Lebensmittel über Bezugskarten. "Die Bauern haben Getreide und Lebensmittel vergraben, verschleppt und sogar in den Wald geführt, um sie nicht zur Ablieferung bringen zu müssen", berichtet Krämer. Dazu kommen die Ausflügler, "diese bezahlen, so viel verlangt wird; nichts ist ihnen zu teuer, wenn sie nur zu essen bekommen!". Weißdornfrüchte werden als Kaffee-Ersatz verwendet und Krähen gebraten.

"Auch ein Zeitbild! titelt Krämer seinen Bericht über eine Gerichtsverhandlung, in der ein Verstoß gegen die fleischlosen Tage in den Gastwirtschaften verhandelt wurde. Die Bräustüberl-Wirtin hatte dabei von Gästen mitgebrachte Würste heiß gemacht. "Neidige und gehässige Seelen brachten dieses hier der Gendarmerie zur Anzeige".

Den letzten Eintrag machte Krämer am 14. November 1918. "König Ludwigs Abdankung wurde bekannt" (...) und "wir sind am gewaltigsten Wendepunkt der Geschichte des deutschen Vaterlands angekommen".

Die aufbereitete Chronik in einer Auflage von 100 Exemplaren hat 524 Seiten und kann für 28 Euro bei der Gemeinde Seefeld erworben werden. Insgesamt umfasst die Chronik acht Bände. Der letzte Band behandelt die Jahre 1973 bis 1990. Evilyn Ecker und Gerhard Birkholz arbeiten bereits an den Bänden drei und vier, die den Weg zum Nationalsozialismus in Seefeld beschreiben.

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