Erinnerungskultur:Das düstere Vermächtnis des Weihbischofs

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Die Gemeinde Pöcking arbeitet die Gräueltaten von Matthias Defregger auf: Ein nach dem Kleriker benannter Weg bekommt daher einen neuen Namen. (Foto: Arlet Ulfers)

Matthias Defregger hat im Zweiten Weltkrieg als Wehrmachts-Hauptmann unschuldige Männer erschießen lassen - danach machte er in der katholischen Kirche Karriere. In Pöcking, wo eine Straße nach ihm benannt ist, sucht man nun nach einer geeigneten Form des Gedenkens.

Von Carolin Fries, Pöcking

Was muss in Matthias Defregger vorgegangen sein, als er am 7. Juni 1944 im italienischen Filetto di Camarda 17 unschuldige Männer erschießen ließ? Und wie hat er das später als Geistlicher mit seinem Gewissen vereinbaren können? Diese Fragen kann auch Marita Krauss nicht beantworten. Die Geschichts-Professorin aus Pöcking hat in den vergangenen zwei Jahren kistenweise Archivmaterial und Gerichtsakten durchkämmt, um den Fall Defregger zu durchleuchten. Denn hier am Starnberger See hat der Wehrmachtsmajor und Weihbischof von 1972 bis zu seinem Tod 1995 in einer prächtigen Villa gelebt, eine Straße im Ort ist nach ihm benannt. Und irgendwie muss die Gemeinde nun mit den NS-Verbrechen dieses Mannes umgehen. Man will es richtig machen und hat sich an die ortsansässige Historikerin gewandt. Doch was ist richtig?

Die Historikerin Marita Krauss hat die Geschichte um das Massaker in Filetto im Auftrag der Gemeinde recherchiert. (Foto: Arlet Ulfers)

Der Spiegel deckte 1969 die Verwicklungen Defreggers in "La Strage" auf,l dem Massaker, wie sie es in dem Abruzzendorf nennen. Demnach kommandierte der Berufsoffizier im Zweiten Weltkrieg die 114. Jägerdivision, als er in dem italienischen Bergdorf den Erschießungsbefehl erhielt. Partisanen hatten die dort stationierten deutschen Einheiten angegriffen und einen Soldaten getötet. Dies sollte nun vergolten werden. Defregger sagte später, er habe gezögerte und versucht, diesen Befehl "abzuwenden oder abzuschwächen". Letztlich aber gab er den geforderten Befehl. Alle männlichen Dorfbewohner zwischen 17 und 69 Jahren fielen den Maschinengewehr-Salven seiner Truppe zum Opfer, Frauen und Kinder wurden vertrieben, das Dorf Filetto geplündert und niedergebrannt. "Die Alliierten waren damals bereits in Rom, nur 80 Kilometer von Filetto entfernt, die deutschen Soldaten bereits auf dem Rückzug", so Marita Krauss. Ein, zwei Tage vielleicht noch, dann wäre der Krieg hier sowieso vorbei gewesen.

Matthias Defregger war ab 1968 Weihbischof in München. (Foto: dpa)

Defregger verteidigte sein Handeln später mit dem Befehlsnotstand. So habe ihm selbst Gefahr für Leib oder Leben gedroht, hätte er den Befehl nicht ausgeführt. Marita Krauss bezweifelt das. Bis heute sei kein Fall bekannt, bei dem ein Befehlsverweigerer erschossen worden wäre. "Er hätte den Befehl auch ankündigen können, dann wäre zur Erschießung keiner da gewesen", sagt die Professorin für Europäische Regionalgeschichte an der Universität in Augsburg. Sie konnte nicht herausfinden, was Defregger vorher in seiner Militärlaufbahn bereits erlebt hatte, ob er auch anderswo in Erschießungen verwickelt war. In jedem Fall aber war er kampferprobt, am Überfall auf Polen beteiligt und 1943 als Hauptmann in Russland. Was seinen Fall betrifft, sind sich die Historiker in der Diskussion über eine Beteiligung der Wehrmacht an NS-Verbrechen einig: "Defregger war zumindest ein Mittäter", so Krauss.

Drei Prozesse gegen Defregger wurden eingestellt

In Frankfurt lief bereits 1968 ein Prozess gegen den Enkel des bekannten Tiroler Malers Franz von Defregger. Doch der Staatsanwalt hatte signalisiert, dass er wohl eingestellt würde. Nun wurde der Prozess neu aufgerollt, der Spiegel-Artikel hatte eingeschlagen "wie eine Bombe", erzählt Krauss. Sollte die Kirche wissentlich einen Mörder zum Weihbischof gemacht haben? Zwei Jahre wurde ermittelt, schließlich kam das Gericht zu der Auffassung, dass es sich bei der Tötung der Männer nicht um Mord, sondern um Totschlag gehandelt habe - der nach 15 Jahren verjährt war. Auch in Italien stellte man Defregger vor ein ziviles Gericht, der Verteidigung gelang es jedoch, das Verfahren vor ein Militärstrafgericht zu verschieben, wo es ebenfalls eingestellt wurde. International war die Aufregung groß: Der Schriftsteller Heinrich Böll empörte sich so sehr, dass er fortan keine Kirchensteuer mehr zahlte und aus der Kirche austrat, in Italien wurde ein Film über das Blutbad gedreht, der Titel: "Der Tag, an dem Gott nicht da war".

Die katholische Kirche hatte alle Hände voll zu tun, die Wogen zu glätten. Denn wie sich herausstellte, wusste Kardinal Julius Döpfner von Defreggers Befehl am Gran Sasso, als er ihn 1968 zum Bischof des Erzbistums München und Freising weihte. Er hatte diese Information aber nicht an den Vatikan weitergegeben. Dort war man um Schadensbegrenzung bemüht, und Döpfner wurde von der Lichtgestalt der katholischen Kirche zum Krisenmanager: Über den Ortspfarrer ließ der Kardinal in Filetto Spenden verteilen, 1970 lud man den italienischen Dorfpfarrer zur Messe in den Freisinger Dom mit anschließender Brotzeit. Defregger bot seinen Rücktritt an, wurde aber nur beurlaubt. Er zog sich in den Innendienst zurück. "Er wirkte vor allem beleidigt", fasst Krauss die Reaktion des Geistlichen zusammen. Die Tatsache, dass er Schuld auf sich geladen haben könnte, wies er stets von sich. Es habe ihm diesbezüglich jeder Sinn zur Reflexion gefehlt, wobei er "durchaus auch ein sympathischer Mann war", wie Krauss sagt. Seinen ehemaligen Kriegskameraden etwa habe er liebevolle Briefe geschrieben.

"Wenn es zu viele sind, werden wir eine Integration nicht schaffen", befürchtet Pöckings Bürgermeister Rainer Schnitzler mit Blick auf die Geflüchteten. (Foto: Arlet Ulfers)

In Pöcking schätzte man Defregger als "charismatischen Prediger", wie Krauss sagt. Er habe "das gewisse Etwas" gehabt, erinnert sich Bürgermeister Rainer Schnitzler. Der heute 56-Jährige hat ihn als Kind und Jugendlicher immer mal wieder als Ministrant erlebt - "nur positiv", wie er sagt. Von den Enthüllungen habe er damals nichts mitbekommen - und recherchiert habe man die Biografie Defreggers nach dessen Tod auch nicht. Stattdessen widmete ihm die Gemeinde 1996 - damals war Konrad Krabler Bürgermeister - den etwa 200 Meter langen Weg von der St. Ulrichskirche hinunter zum Friedhof. In der Kirche hatte Defregger 1994 seine Nachprimiz gefeiert. Laut Schnitzler war er dem Ort von Kindheit an verbunden, später vermachte ihm seine Taufpatin die Villa. Inzwischen wurde das Baudenkmal im alpenländischen Heimatstil an neue Eigentümer verkauft. Wie es damals zu der Namensgebung kam? "Der Vorschlag kam aus der Bevölkerung", so Schnitzler. "Defregger hatte einen guten Ruf, er war beliebt."

Die "Defregger Villa" in Pöcking: Hier wohnte einst der Weihbischof. (Foto: Arlet Ulfers)

Erst 2020 gab es das böse Erwachen, als der Bürgermeister Post von Anhängern "sinnstiftender Traditionspflege" aus Niedersachsen bekam: Die Gemeinde möge doch bitte den Weihbischof-Defregger-Weg umbenennen: "In einer freiheitlichen Demokratie sollte das Gedenken an die Opfer Vorrang haben vor der öffentlichen Ehrung der Täter!" Doch waren zu diesem Zeitpunkt noch viele Fragen offen: Hatte Defregger die Filettesi tatsächlich nie besucht und um Verzeihung gebeten? Wäre er dort denn überhaupt willkommen gewesen? Und wie funktioniert eine Erinnerungskultur, die "alle Grautöne" berücksichtigt, wie Schnitzler sagt.

Nach allem, was Marita Krauss recherchieren konnte, war Defregger nach Kriegsende nie mehr in Italien. "Bis 1968 hätte er Zeit gehabt, sich darum zu kümmern", sagt die Pöckingerin. Spätestens nach 1972, als die Prozesse eingestellt und wieder Ruhe in sein Leben eingekehrt war - "da hätte er doch hinfahren und um Verzeihung bitten können", sagt sie. Diese Form der Verdrängung und Verleugnung nannte der Journalist und Autor Ralph Giordano in seinem gleichnamigen Buch "Die zweite Schuld". Darin schildert er, wie das Versagen der deutschen Gesellschaft nach dem Nationalsozialismus die politische Kultur der Bundesrepublik geprägt hat. Ein Stück dieser Schuld laste nun auf Pöcking, so Krauss, denn "hier wurde er geehrt, hier ist ein Weg nach ihm benannt". Dadurch habe die Gemeinde Verantwortung übernommen. Die logische Konsequenz für sie: dieses Kapitel gemeinsam mit den Bewohnern des italienischen Dorfes aufarbeiten. Dort haben sie das Massaker nicht vergessen: Direkt nach Kriegsende wurde im Ort eine Gedenktafel für die Opfer aufgestellt. Sie wurde 1987 durch eine Gedenkstätte ersetzt, welche die Causa Defregger ausführlich behandelt.

Historikerin Marita Krauss mit Bürgermeister Rainer Schnitzler am Weihbischof-Defregger-Weg. (Foto: Arlet Ulfers)

Braucht auch Pöcking eine Informationstafel und ein jährliches Gedenken? Oder reicht es, dem Weg einen neuen Namen zu verpassen? "Friedensweg" hat ein Gemeinderat vorgeschlagen. Zum 78. Jahrestag der Erschießungen an diesem Dienstag reist erstmals eine 13-köpfige Delegation um Schnitzler und Krauss in das Abruzzendorf zu den Nachfahren der Kriegsopfer. "Eine Geste", wie Krauss sagt. Im Anschluss, am 23. Juni, wolle man das weitere Vorgehen mit den Pöckinger Bürgern beraten. Alle sollen sich angesprochen fühlen, eine Form des Gedenken in Pöcking zu entwickeln. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sich bereits bei der Historikerin für ihren Einsatz bedankt. "Die Opfer, ihre Nachfahren und die Überlebenden haben es verdient, nicht vergessen zu werden", schrieb er. Auch der Münchner Kardinal Reinhard Marx hat auf Anfrage von Marita Krauss ein Grußwort geschickt. Die Person Matthias Defregger zeige, wie der Mensch im Krieg, und nicht nur dort, schuldig werden könne - ob er es wolle oder nicht. "Dennoch bleibt die unbeantwortete Frage, ob es nicht doch einen Ausweg aus dem Dilemma hätte geben können, in das er gestellt war", schreibt Marx. Im zeitlichen Abstand von 78 Jahren könne Einordnung und Einschätzung anders ausfallen als unmittelbar in den Jahrzehnten nach dem Krieg oder gar in der Situation selbst. Marx kommt deshalb zu dem Ergebnis, "dass es notwendig ist, das Verhalten von Matthias Defregger im Krieg und auch in der Zeit danach kritisch anzuschauen und aufzuarbeiten". Eindeutigkeit im Urteil über das Handeln der Person werde es dabei aber wohl nicht geben.

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