Porträt:Die Gourmet-Detektivin

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Inge Huber wohnt in Utting, Schwabing und der Toskana. Die ehemalige Kunsthändlerin sammelt dort antike Gemälde, Skulpturen und Dokumente. (Foto: Nila Thiel)

Auf gut Glück kaufte die Uttingerin Inge Huber vor 20 Jahren zwei Container mit historischem Material - und wurde zur Biografin eines vergessenen französischen Michelin-Wegbereiters. Nun wird sie Teil eines Dokumentarfilms. Über eine Frau und ihre Lebensaufgabe.

Von Léonardo Kahn, München/Utting

Ihre Wohnung ähnelt einem Archiv. Aus jeder Ecke quillt vergilbtes Papier, selbst in den Küchenschubladen, wo üblich Töpfe und Pfannen klimpern, hortet die Uttingerin Inge Huber Dokumente aus dem vergangenen Jahrhundert. Immer wieder taucht darauf der Name "Curnonsky" auf. Mal sind es Briefe, Widmungen von Freunden, Rezepte, die über die Jahre verblasst und verknittert sind.

Maurice Edmond Sailland, so heißt Curnonsky mit richtigem Namen, gehört zu den einflussreichsten Gastronomiekritikern seiner Zeit, als Wegbereiter der modernen französischen Küche - und als Grundsteinleger für den berühmten "Guide Michelin". Aber zu seiner Person später mehr.

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Wenn man Hubers Münchner Wohnung betritt, steht eine andere Frage im Raum: Warum häuft eine Frau die gesammelten Werke eines hierzulande unbekannten Gastronomiekritikers an? Auch sie weiß es nicht genau. "Ich habe es einfach gemacht", antwortet die gebürtige Echingerin. Mit "es" meint sie: zwei Container einer Pariser Privatbibliothek aufkaufen, eine Wohnung in Schwabing als Zwischenlager anmieten, Bücher und Dokumente nach dorthin verfrachten und die nächsten zwanzig Jahre den Inhalt der Kisten studieren.

Die Wohnung in Schwabing dient der Zwischenlagerung, eigentlich wohnt sie mit ihrem Mann in Utting am Ammersee. Den Nachlass von Curnonsky entdeckte sie zufällig, als sie die Bücherkisten zuhause durchstöberte, nachdem sie die Bibliothek erworben hat. Darüber wurde sie zur anerkannten Experten des französischen Bohème. Das bestätigt ein Anruf im französischen Nordwesten. "Im Grunde gibt es niemand, der sich mit seinen Werken besser auskennt wie sie", sagt der Ernährungshistoriker Loïc Bienassis von der Université de Tours.

Inge Huber ist Rentnerin - und Meisterin im wilden Assoziieren. Stellt man ihr eine Frage, hört sie nicht mehr auf zu reden. Es folgen Anekdoten, Gedanken, Einwendungen. Den Ammersee findet sie "stinklangweilig", das Spannendste, was man dort machen könne, sei Schwammerl suchen. Und auch Schwabing hat ihrer Meinung nach seinen Reiz verloren. "Wo hast du in München noch Intellektuelle, die zusammenhocken?", fragt sie rhetorisch.

Inge Huber hat sich in Schwabing eine neue Wohnung zugelegt, um genug Platz für Curnonskys Nachlass zu haben. (Foto: Léonardo Kahn)

Vielleicht ist es auch diese Nostalgie, diese Sehnsucht nach der Belle Époque, warum die Uttingerin sich an die Lebensgeschichte des Gastronomen festklammert. Sie ist von dessen Freundschaften fasziniert, die er mit Pariser Intellektuellen pflegte: Coco Chanel, Édith Piaf und Émile Zola sind die Bekanntesten. Diese Art der Freundschaft sei heute weitestgehend verloren gegangen, sagt sie.

In ihrer Schwabinger Wohnung stapeln sich nicht nur Bücher, sondern auch antike Vasen, Skulpturen und edles Geschirr. Früher arbeitete sie als Gartengestalterin und Händlerin, sie hat ein Auge für Kunstgegenstände. So konnte sie zumindest Teil der jahrelangen Recherche aus eigener Tasche finanzieren. Teile ihrer Familie seien zwar wohlhabend, sagt sie, aber die vielen Reisen nach Paris und Angers, die Geburtsstadt des Gourmets, habe sie bezahlt.

Seitdem sie auf Curnonsky gestoßen ist, wurde sein Nachlass zu ihrer Lebensaufgabe. Unter dem weltläufigen Namen ihrer französischen Vorfahrin Jeanne B. Barondeau veröffentlichte sie im Eigenverlag drei Bücher (5,1 Kilo), verfasst auf Französisch, was aber nur der Anfang einer geplanten Reihe ist. 2010 veröffentlichte sie im Heyne Verlag ein deutsches Buch über den Gourmet, das in der Presse zwar gut besprochen wurde, sich aber schlecht verkaufte. Außerdem sucht sie nach Kuratoren, die ein Museum oder zumindest eine Ausstellung über den Mann kreieren wollen - bisher vergeblich. Oder wie wäre es mit einem Film?

Über Frankreichs berühmtesten Gastronomen gibt es noch keinen Film

Der Südtiroler Regisseur Gottfried Deghenghi lernte Inge Huber in einer Antiquitäten-Ausstellung kennen und war fasziniert von ihrem Ehrgeiz. "Sie hat die Recherche alleine gestemmt, ohne Unterstützung von einem großen Verlag", erklärt der Italiener am Telefon. Derzeit dreht er an verschiedenen Schauplätzen am Ammersee einen Dokumentarfilm über die Uttingerin und ihre Passion. Die Dreharbeiten sind fast abgeschlossen, doch die Doku soll erst in zwei Jahren erscheinen. Es kam etwas dazwischen: ein Spielfilm.

Mario Schühly, Sohn von Rainer Werner Fassbinders Produzent Thomas Schühly, wirkt in München ebenfalls als Filmproduzent. Inge Huber habe er über eine gemeinsame Freundin kennengelernt, sagt er am Telefon. Die Geschichte habe ihn so gepackt, dass er ihr die Filmrechte für das Buch abkaufte. Die Regie soll die Deutsch-Französin Marie Noëlle übernehmen, gerade sind sie auf der Suche nach einer geeigneten Besetzung. Aber soviel kann Mario Schühly verraten: Der Film soll "groß rauskommen". Es wäre der erste Spielfilm über den ruhmvollen Gastronomen und werde sich daher entsprechend verkaufen. "Nur mit dem Namen müssen wir uns etwas einfallen lassen", sagt der Produzent. Curnonsky klinge "nicht schön".

Wer war Curnonsky überhaupt?

Mario Schühly, Gottfried Deghenghi und Inge Huber: Alle drei kommen von Curnonsky nicht los. Und das, obwohl seine Lebensart komplett aus der Mode geraten ist. Er war ein korpulenter Mann mit bis zu 120 Kilo Körpergewicht, der schlecht kochen, dafür aber gut essen und schreiben konnte. Seine Rezepte waren derart deftig, dass sich in der heutigen Food-Bowl-Generation kein Restaurant trauen würde, sie nachzukochen. In einer seiner Kreationen soll man Kalbsmedaillons mit geschnittenen Trüffeln in reichlich Butter anbraten, das Ganze mit Sahne ablöschen und Spargelspitzen dazugeben.

Maurice Edmond Sailland, auch genannt "Curnonsky", ist eine Kultfigur des 20. Jahrhunderts. Er wog bis zu 120 Kilo. (Foto: Paris-Soir/Wikimedia)

Der "Prinz der Gastronomen", wie er in Frankreich getauft wurde, war ein Macho, ein Charmeur und ein Provokateur. Auch wenn er das Kochen nur als stiller Herdbeobachter kannte, schrieb er besser als alle, die tatsächlich kochen konnten. In Paris erfand der damalige Literaturstudent sein Pseudonym: "Cur non" aus dem Lateinischen, "warum nicht?", und das russische Suffix "-sky", das damals Mode war.

"Ich gehe nicht ins Restaurant, um die Vorhänge zu essen"

In den Zwanzigerjahren fuhr er mit seinem Freund Marcel Rouff durch ganz Frankreich und futterte sich durch die Speisekarten der Herbergen. Daraus entstand die Buchreihe La France gastronomique, der Vorreiter vom Guide Michelin. Auch wenn sein Name mittlerweile in Vergessenheit geraten ist, hat er die Vorstellung von authentischem Essen geprägt. Er machte sich über die Haute Cuisine lustig, spottete: "Ich gehe nicht ins Restaurant, um die Vorhänge zu essen." Einer, der die ländliche Küche liebte.

Dieses savoir-vivre fasziniert den Produzent Thomas Schühly. "Sein Lebensgefühl ist uns abhandengekommen", sagt er. Aber es gibt auch eine weitere Wendung, die Schühly in seinem Spielfilm ausleuchten will. Der Gastronom ist 1956 auf mysteriöse Weise verstorben. Klar ist: Der damals 83-Jährige stürzte durch das Fenster seiner Wohnung im dritten Stockwerk. Er starb auf den Pflastern des Place Henri-Bergson im achten Pariser Arrondissement, wo heute noch eine kleine Plakette an den Mann erinnert. War es ein Unfall? Suizid? Oder Mord?

Detektivarbeit für Inge Huber. Sie ist zu dem Schluss gekommen, dass er sich bewusst aus dem Fenster stürzte. Er hätte gar nicht aus dem Fenster fallen können, "der Zugang war versperrt", so die Rentnerin. Schaue man sich die letzten Briefe seiner Freunde an, dann sei der Ton "immer tröstend." Daraus schließt sie, dass er seinen Freunden von Problemen berichtet haben muss. Vermutlich auch von Geldsorgen. Laut Hubers Recherchen schuldete der Reifenhersteller Michelin ihm bis zum Schluss seine Rente. Angeblich arbeitete er für die Firma als Lohnschreiber, was das Unternehmen bis heute leugne.

Laut Inge Huber befindet sich Curnonskys gesamter Nachlass in ihrer Wohnung. "Wenn im Internet neue Schriften von ihm auftauchen, kaufe ich sie direkt", sagt sie. (Foto: Léonardo Kahn)

Wie Curnonsky tatsächlich gestorben ist, bleibt historisch umstritten. Das bestätigt auch der Historiker Loïc Bienassis von der Université de Tours. Es gebe viele Hypothesen über Curnonskys Todesumstände, so die Einschätzung des Historikers. Hubers Recherchen mangele es an "Rigorosität", weshalb sich die Wissenschaft damit wenig befasse, aber sie sei eben auch keine Historikerin.

Ob sich Inge Huber von ihrer Überzeugung umstimmen lässt? Wahrscheinlich nicht. "Wenn jemand Zweifel hat, sollen sie nur herkommen", sagt sie. Geht es nach ihr, dann soll die Wahrheit über das Lebensende des Pioniers ans Licht kommen. "Es ist ja alles hier", sagt sie. So will sie dranbleiben, am Leben und Tod dieses Mannes und damit auch an dieser besonderen Zeit, in der die Intellektuellen in Cafés rauchten und diskutierten.

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