Firmenporträt:Die Tasten-Zauberer

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Der Andechser Betrieb "Ludwig Eisenschmid" fertigt seit mehr als 100 Jahren die Spieltische für die berühmtesten Kirchenorgeln der Welt. Dennoch ist ihr Name der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt

Von Gerhard Summer, Andechs

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(Foto: Georgine Treybal)

Die Orgelbauer von Andechs sind ein echter Familienbetrieb: Sebastian Reiser (links) sowie Christine Reiser und Seniorchef Ludwig Reiser mit ihren Mitarbeitern.

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(Foto: Georgine Treybal)

Die Werkstatt sieht aus wie eine Schreinerei mit einem Elektronik-Betrieb und einer Feinmechanik-Abteilung.

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(Foto: Georgine Treybal)

Seit 111 Jahren werden hier Spieltische für Orgeln produziert.

Sie sind die großen Unbekannten. Bei einer Orgeleinweihung in der Kirche beispielsweise "spricht erst der Bischof", sagt Ludwig Reiser, Seniorchef der Ludwig Eisenschmid GmbH, "danach der Pfarrer und der Bürgermeister", vielleicht kommt auch noch der Orgelbauer zu Wort. Reiser selbst oder sein 38-jähriger Sohn Sebastian sind oft gar nicht eingeladen, und wenn doch, erwähnt in der Regel niemand sie oder ihren Familienbetrieb. Denn das renommierte Andechser Unternehmen im Landkreis Starnberg gehört zu den Phantomen des Orgelbaus.

Seine Unikate stehen im Herkulessaal in München, im Palau de la Música Catalana in Barcelona und auf dem Heiligen Berg, sie geben in Korea den Ton an und in Südamerika, in Kanada und Japan. Und doch teilt die Manufaktur das Schicksal von Komponentenherstellern: weltweit gefragt, selten gewürdigt. Sebastian Reiser lächelt und zuckt die Achseln. "Das geht allen Zulieferern so", sagt er, in der Automobilindustrie sei es ja nicht anders.

Dabei fabriziert der vor 111 Jahren gegründete Betrieb nicht irgendwelche banale Einzelteile. Er fertigt den sogenannten Spieltisch. An dieser pultartigen Schaltzentrale sitzt der Musiker und bemüht sich mit Händen und Füßen, beispielsweise Bachs Toccata in d-Moll oder Regers Variationen und Fuge über ein Originalthema in fis-Moll Klang zu geben. Ein fast fertiges Exemplar steht im Montageraum des Betriebs. Eine geschwungene, weinrot lackierte Apparatur mit drei Manualen, die an ein Flugzeugcockpit erinnert. Zwei Meter breit und fast 500 Kilo schwer, ein aus ein paar Tausend Teilen bestehender Zauberkasten, in dem jede Menge Holz, Metall, Messing, Filz, Neusilber und Stahl verbaut ist. Die 74 Registerzüge haben Porzellanhütchen, die 168 Tasten sind mit Plättchen aus weißen Rinderknochen belegt, auf der Rückseite des Spieltisches blinken grüne Lämpchen in zwei kniehohen Schaltkästen. Auf dem ovalen Firmenschild an der Front steht allerdings nicht der Name des Herstellers, sondern der des Orgelbauers, für den Eisenschmid in diesem Fall arbeitet.

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(Foto: Georgine Treybal)

Die 74 Registerzüge sind mit Porzellanhütchen versehen.

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(Foto: Georgine Treybal)

Innerhalb eines Spieltisches ist so einiges an Elektronik verbaut.

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(Foto: Georgine Treybal)

Klassisches Werkzeug wird beim Bau aber dennoch gebraucht.

Fair ist das nicht. Aber die Reisers haben sich offenbar daran gewöhnt, dass der Name ihrer Firma meist unter den Tisch fällt. Außerdem: Ihr Produkt "ist nur der kleinere Teil der Arbeit", sagt der 72-jährige Seniorchef. Und die Auftraggeber, die Orgelbauer, wollten nun mal den Eindruck erwecken, dass alles aus einem Guss sei und sie selbst den Spieltisch fabriziert hätten. Manchmal laufe es auch anders: Als die Münchner im Juni 2019 das neue Herzstück der Orgel in der evangelischen Kirche St. Lukas einweihten, "sind wir sogar erwähnt worden", sagt Reiser sen. Allerdings: Damals sei nicht das ganze Instrument, sondern einzig der Spieltisch erneuert worden. Und in Porto in Portugal durften er und die Orgelbauer sogar neben dem damaligen Staatspräsidenten Mário Soares sitzen, die Portweinhändler brachten ihre Weinfässer mit Ochsenkarren zur Kirche, zogen sie auf die Empore hoch und schenkten aus Zapfhähnen aus, die sie in zwei große Orgelpfeifen eingebaut hatten. Das ist allerdings länger her, Ludwig Reisers Ehefrau Christa schaut extra in den Unterlagen nach. 1995, sagt sie.

Etwa 50 000 Orgeln und 300 Orgelbauer gebe es heutzutage in Deutschland, erklärt Reiser, der genauso wie sein Sohn und dessen Frau Stephanie den "sehr vielseitigen" Beruf erlernt hat. Darunter seien viele Ein- bis Drei-Mann-Betriebe, bei größeren Unternehmen mit bis zu 30 oder 50 Mitarbeitern werde es schon dünn. Was die Zulieferer betrifft, hielten außer der Andechser Firma nur noch drei Mitbewerber die Stellung. Dabei sei die Auftragslage trotz Corona gut: "Die Bücher sind dicke voll fürs ganze Jahr und teilweise schon für 2023." Allerdings fehlt es an Fachpersonal, auch das samt Chefs 13-köpfige Andechser Team sucht derzeit Mitarbeiter.

Das 1950 erbaute Firmengebäude stand einst am Ortsrand von Andechs. Ein unscheinbares U-förmiges Gebäude mit inzwischen leicht verblasstem Firmenschild. Längst ist es, ohne groß aufzufallen, mitten ins Wohngebiet gerückt, weil ringsrum immer mehr Häuser dazugekommen seien, wie Sebastian Reiser sagt. Zum Kloster sind es grob geschätzt nur 800 Meter Luftlinie, auch die Jann-Orgel der Wallfahrtskirche verfügt über einen Spieltisch made in Andechs.

Drinnen sieht es aus, als hätte sich eine mit großen Fräsen und Sägen ausgestattete Schreinerei mit einem Elektronik-Betrieb und einer Feinmechanik-Abteilung verbündet. Von den grünen Türen blättert der Lack, an den Wänden hängen Fotos von Orgeln und technische Zeichnungen, in der Montage finden sich Schachteln mit Holzplättchen, die als Reglerwippen dienen, genauso wie Laptops. Tatsächlich kommt bei dieser Firma, die 1911 in München aus der Taufe gehoben worden war und sich spezialisiert hatte, weil Firmengründer Ludwig Eisenschmid den aufwendigen Orgelaufbau in Kirche scheute, traditionelle Präzisionsarbeit und moderne Technik zusammen. Wenn die Reisers in Fahrt kommen, erklären sie schon auch mal, was sich alles mit einem Touchpanel am Spieltisch steuern lässt: der Windregler und der Tremolator, Inverskoppeln, Manualtauscher und die Setzerbedienung.

Ja gut, Ludwig Reiser kann es auch einfacher sagen: "Die Orgel funktioniert wie eine Flöte." Nur dass die Sache eben etwas komplizierter ist. Die Andechser bauen Spieltische mit mechanischem oder elektronischem Übertragungssystem, der sogenannten Traktur. Die einen leiten den Tastenanschlag mit Drähten, dünnen Holzleisten, Hebeln und Winkeln weiter, die anderen mit Lichtschranken und Magneten. Weil so Impulse entstehen, die sich über die digitale Schnittstelle MIDI abspeichern lassen, sind moderne Orgeln so etwas wie riesige Pianolas. Denn der Organist könnte auf Knopfdruck das gerade gespielte, angeblich einmalige Live-Konzert noch mal erklingen lassen und sogar darüber improvisieren. Oder, was laut Ludwig Reiser der praktische Nutzen ist, von der Empore nach unten gehen und in den Zuhörerreihen prüfen, ob Klang und Lautstärke passen. Bis zu einer Million Kombinationen könnten elektronisch abgespeichert und wieder abgerufen werden, sagt er.

Die Technik und die Feinarbeit haben ihren Preis. Spieltische kosten je nach Größe und Verarbeitung 70 000 bis 150 000 Euro, 800 bis 1000 Arbeitsstunden stecken in ihnen. 20 Stück baut die Firma pro Jahr, ob sie auch bei der voraussichtlich 6,5 Millionen Euro teuren Sanierung der weltberühmten Passauer Domorgel zum Zuge kommen wird, steht noch dahin. Einen ersten Auftrag haben die Andechser Spezialisten aber schon an Land gezogen. Sie liefern die Elektronik für die komplett im Dom verteilten Instrumente.

Auch die Verkabelung in Kirchen oder Konzertsälen, die oft Sebastian Reiser übernimmt, ist aufwendig und dauert bis zu einer Woche. Am Ende können die Chefs allerdings gar nicht überprüfen, wie gelungen ihr Werk ist. Keiner von ihnen spielt Orgel, nur Stephanie Reiser, 38, beherrscht ein Instrument, die Geige. Ludwig Reiser sagt es so: "Bei uns ist die Technik gefragt."

© SZ vom 31.01.2022 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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