Arbeitsmarkt:"Meine Arbeit, das ist wie eine Familie"

Lesezeit: 5 min

Yarangünü Ömer mag seinen Job. Kamine verblenden oder Regenrinnen montieren, "da bin ich schnell", sagt er. (Foto: Arlet Ulfers)

Yarangünü Ömer arbeitet seit 40 Jahren in einer Spenglerei in Andechs. Was hält einen Menschen so lange im selben Job - und was muss ein Chef dafür bieten? Ein Besuch auf der Baustelle.

Von Carolin Fries, Andechs

Seinen Chef hat Yarangünü Ömer aufwachsen sehen: Wie er mit dem Bobbycar über das Firmengelände gefahren ist, wie er als Schulbub den Papa in der Firma besucht hat, wie er schließlich zu einem jungen Mann heranwuchs und selbst in den Spengler- und Dachdeckerbetrieb in Andechs einstieg. Vor gut zehn Jahren übernahm Christian Koder, 42, schließlich den Betrieb seines Vaters - und damit auch dessen treuesten Mitarbeiter: Ömer arbeitet seit 40 Jahren für die Firma. Eine Besonderheit in Deutschland, liegt die durchschnittliche Betriebszugehörigkeit bei gerade einmal zehneinhalb Jahren, wie das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) 2019 ermittelt hat. Wie hat Ömer das geschafft? Oder: Was macht Christian Koder und seinen Betrieb aus, dass sich Mitarbeiter so lange dort wohlfühlen?

Freitagmittag auf einer Baustelle in Pöcking: Das Dach auf dem schicken Einfamilienhaus mit bodentiefen Fensterfronten ist nahezu fertig. Alle Handwerker haben sich schon ins Wochenende verabschiedet, nur Ömer, den alle nur Karli nennen, ist noch dort. "Ein paar Kleinigkeiten noch", wie er sagt. Es dauert keine Minute, da ist er über eine steile Rampe auf dem Baugerüst und von hier auf das schräge Blechdach bis hoch zum First gestiegen, auf den er sich wie auf einen Sattel setzt und sorgsam beginnt, die Nahtstelle umzubiegen. In dieser schwindelerregenden Höhe arbeitet er konzentriert und ruhig. Und erstaunlich routiniert: Eine Hand am Material gibt er mit der anderen einen leichten Schlag mit dem Kunststoffhammer auf das umgeknickte Blech. Und schon sind die Hände zehn Zentimeter weiter gerutscht für den nächsten Schlag. Er möge seine Arbeit, sagt der 59-Jährige. Kamine verblenden oder Regenrinnen montieren, "da bin ich schnell".

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40 Stunden jede Woche ist er auf Baustellen unterwegs. "Ich hab' auch probiert, in der Werkstatt zu arbeiten", sagt er. "Aber das geht nicht. Ich muss raus." Draußen kennt man ihn, den immer noch jugendlich wirkenden Mann mit den dunklen Augen unter dem Käppi und dem grau melierten Bart - er ist schließlich schon eine gefühlte Ewigkeit dabei. Zimmerermeister Leopold Göring aus Starnberg sagt über Ömer, er habe "Hände wie Zangen". Die richtigen Handgriffe seien ihm in Fleisch und Blut übergangen, "Blech zu formen ist nicht leicht". Vor allem aber habe Ömer "ein richtig gutes Herz und einen lustigen Humor". Das ist mindestens genauso wichtig, wenn es mal stressig wird auf dem Bau.

Ömer selbst weiß nicht so recht, warum er so lange bei den Koders in Andechs geblieben ist. "Zwischendurch habe ich schon mal darüber nachgedacht, in einen größeren Betrieb zu wechseln und aufzusteigen." Doch "irgendwas hat mich hier gehalten", sagt er. Er hat neben dem Chef nur eine Handvoll Kollegen dort, was seine Treue noch seltener macht. Denn in kleinen Betrieben mit weniger als 20 Mitarbeitern ist die Fluktuation besonders groß. Dort bleiben Mitarbeiter nach IW-Angaben im Durchschnitt nur acht Jahre. Ömer hat das Soll gleich fünffach übertroffen. "Meine Arbeit, das ist wie eine Familie", sagt er.

Leopold Göring ist Obermeister der Zimmerer in der Kreishandwerkerschaft. Im vergangenen Jahr gewann der Unternehmer aus Starnberg den Wirtschaftspreis des Landkreises. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Yarangünü Ömer ist 15 Jahre alt, als er 1980 mit seiner Schwester nach Deutschland kommt. Sie sind bei der Großmutter in Denizli in der Türkei aufgewachsen, während sich die Eltern als Gastarbeiter im Landkreis Starnberg eine Zukunft aufgebaut haben: Der Vater arbeitete in einer Autolackiererei, die Mutter als Reinigungskraft. Yarangünü besucht die Mittelschule, obwohl er kaum ein Wort Deutsch spricht. Er hat ausschließlich in Deutsch, Mathematik und Musik Unterricht, nach drei Monaten bricht er die Schule ab. "Das war eine schwere Zeit, weil ich die Sprache nicht konnte", erinnert er sich. Horst Koder, Seniorchef der Dachdeckerei in Andechs, lässt ihn auch ohne große Deutschkenntnisse am Wochenende mithelfen. Als er erfährt, dass der Junge eine feste Arbeit sucht, weil er sonst keine Aufenthaltsgenehmigung bekommt, fragt er ihn, ob er mitmachen will. Und der inzwischen 16-Jährige sagt: "Ich will es versuchen."

Die ersten Male oben auf dem Dach seien schwierig gewesen, erinnert sich Ömer. Doch er habe sich schnell daran gewöhnt. 1982 fängt er im Betrieb an, Horst Koder meldet den jungen Mitarbeiter bei der Berufsschule an. "Es hat alles Spaß gemacht am Job", sagt Ömer. Vor allem im Sommer habe er es genossen, unter freiem Himmel arbeiten zu dürfen. Als er den Führerschein hat, bekommt er einen Firmenwagen. 1988 heiratet Ömer seine Frau Pembe, die beiden ziehen in eine Wohnung in Seefeld, wo sie drei Kinder groß ziehen. "Wir haben keine Hilfe vom Staat bekommen, sondern alles selbst erarbeitet", erzählt er. Es sei kein Luxusleben gewesen, im Urlaub ging es immer in die Türkei. Statt teure Hobbys zu pflegen, spielen sie im Sportverein Fußball. Die Kinder sind inzwischen ausgezogen. "Deutschland ist unsere Heimat", sagt Ömer. Mit seiner Frau redet er türkisch, doch kommt die komplette Familie zusammen, wird Deutsch gesprochen.

GWT-Geschäftsführer Christoph Winkelkötter sagt, die Ansprüche an Arbeitgeber seien gestiegen. "Das ist nicht immer einfach." (Foto: Georgine Treybal)

Auch mit seinen Arbeitskollegen sitzt der 59-Jährige regelmäßig zusammen. "Wir haben auch privat miteinander zu tun, machen mal eine Grillfeier", erzählt Christian Koder. Er ist überzeugt, dass die familiäre Atmosphäre entscheidend für die Zufriedenheit der Mitarbeiter ist. Starnbergs Wirtschaftsförderer Christoph Winkelkötter beobachtet dieses Phänomen im Landkreis immer wieder im produzierenden Gewerbe mit mittelständischer Prägung. Überdurchschnittlich lange Betriebszugehörigkeiten seien dort keine Seltenheit. In einem Fall habe ein Mitarbeiter sogar noch als Rentner im Betrieb weitergearbeitet - bis er an seinem Arbeitsplatz starb. Doch die Zeiten haben sich geändert. Wer heutzutage zufriedene Arbeitnehmer haben will, muss mehr bieten als gesichertes Einkommen. "Die Ansprüche sind gestiegen", sagt der Geschäftsführer der Gesellschaft für Wirtschafts- und Tourismusentwicklung (GWT). "Damit muss man als Arbeitgeber umgehen, das ist nicht immer einfach", weiß er.

Für Yarangünü "Karli" Ömer ist der Dienstwagen ein Zeichen der Wertschätzung. "Er fragt noch immer, wenn er eine private Fahrt machen will. Seit 40 Jahren ist das so", erzählt Christian Koder und ergänzt: "Ich hab' noch nie Nein gesagt." Loyal, fleißig und ehrlich sei Ömer - der perfekte Mitarbeiter. Er hätte gerne mehr davon, doch der Nachwuchs bleibt immer öfter aus. Im vergangenen Jahr etwa konnte er keinen Lehrling einstellen. Die Zeiten, als die Betriebe kontinuierlich ausbilden konnten, sind in vielen Branchen vorbei. Jede fünfte Lehrstelle im Landkreis ist momentan unbesetzt. Metzger oder Bäcker will kaum mehr jemand werden. Ebenso unbeliebt: "Alles, wo man auch mal dreckig wird", wie Winkelkötter sagt.

"Man muss die Jugend ganz schön hofieren"

Zimmerer Leopold Göring ist auf jeder Ausbildungsmesse, um Nachwuchs zu generieren. "Man muss die Jugend ganz schön hofieren", hat er festgestellt. Ihn stört, dass die Jugendlichen selbst kaum Engagement zeigen, um eine gute Ausbildung machen zu können. Er vermutet, dass dahinter auch Eltern und Lehrer stecken, die das Handwerk bewusst oder unbewusst schlechtreden, um die Kinder möglichst lange im Schulsystem zu halten. Doch warum? "Wir brauchen diese Fachkräfte' sie versorgen uns alle." Göring weiß, wovon er spricht, er selbst kommt aus einem akademischen Haushalt. Als er mit 15 Jahren das Gymnasium abbricht, "war das eine Katastrophe". Heute führt er erfolgreich seinen eigenen Betrieb. Sein langjährigster Mitarbeiter ist seit zehn Jahren dabei. Er bewundert Ömer auch fürs körperliche Durchhalten, "der ist immer noch fit".

Ömer selbst sagt, er spüre das Alter schon. Bis 67 werde er wohl nicht durchhalten, er liebäugelt mit Altersteilzeit. Derweil sieht er in der Andechser Spenglerei die dritte Generation heranwachsen: Vinzenz Koder feiert bald seinen 18. Geburtstag, im Winter steht für den Sohn von Christian Koder die Gesellenprüfung an. "Es geht also weiter."

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