Ski alpin:Harte Schule

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Der Gilchinger Thomas Dreßen, 22, hat sich im deutschen Speed-Team etabliert und bereits seine ersten Weltcup-Punkte gesammelt. Dennoch ist jeder Start eine Herausforderung: Ihn begleitet die Erinnerung an seinen Vater, der bei einem Seilbahn-Unglück starb

Von Johannes Knuth, Gröden/München

Thomas Dreßen hat die Erinnerungen aufgehoben. Hat sie verstaut in seinem Hinterkopf, wie in einer Truhe, aus der man ab und an etwas fast Vergessenes herauskramt. In seinem Hinterkopf ruhen die Erinnerungen an den Unfall seines Vaters. Gedanken an ein Unglück können einen mit Schwermut beladen. Sie können aber auch Halt verleihen, wenn einem der Halt entgleitet. Nach dem Unfall, erinnert sich Dreßen, fragten ihn damals viele, ob er weitermachen wolle als Skirennfahrer. "Aber ich habe mir diese Frage eigentlich nie gestellt", sagt er. "Der Traum von meinem Papa war, dass er mich dahin bringt, wo ich jetzt bin."

Thomas Dreßen, 22, aus Mittenwald, aktiv für den TSV Gilching-Argelsried (Landkreis Starnberg), hat sich vor der Saison einen der begehrtesten Arbeitsplätze im Skirennsport gesichert. Er zählt zum Stammpersonal der deutschen Weltcup-Mannschaft für das Ressort Abfahrt und Super-G, zum ersten Mal überhaupt in seiner Karriere. Weil die Kollegen Tobias Stechert und Fabio Renz verletzungsbedingt die Saison verpassten. Und weil Dreßen einer der Talentiertesten ist, die sie im Deutschen Skiverband (DSV) beschäftigen. Seine erste, vollwertige Saison im Weltcup ist ein Ausbildungsjahr, er liegt ganz gut im Plan, im Super-G von Lake Louise wurde er 23., seine ersten Punkte im Weltcup. Wichtiger ist ihm aber das Privileg, mit dem alpinen Zirkus durch den Winter zu ziehen. "Ich denke, das ist der Traum von jedem Skifahrer", sagt er. Nicht zuletzt, weil Dreßen diesen Traum mit jemandem teilt, den er nicht mehr bei sich hat.

Dirk Dreßen war Biathlet. Nach seiner Karriere fand er Spaß am alpinen Skisport und am Trainieren, Thomas war sein erster Schüler, zunächst in Mittenwald, dann in Neustift/Österreich, am Ski-Internat. Thomas war talentiert, in den Schülerkader konnten sie ihn aber nicht eingliedern als Deutschen. Er zog zurück nach Deutschland, zum TSV Gilching, der seinem Vater eine Trainerstelle anbot. Am 5. September 2005 trainierte Dirk Dreßen mit einer Schülergruppe auf dem Gletscher in Sölden. Ein Lastenhubschrauber, der das Gebiet überflog, verlor über der Steilbahn einen 750 Kilogramm schweren Betoneimer. Dreßen war einer von neun Menschen, die das Unglück nicht überlebten.

Mit Tempo 130 über vereiste Kurven: "Manche Stellen musst du mit Kopf fahren, bei anderen einfach die Arschbacken zusammenkneifen", so Thomas Dreßen. (Foto: imago/Eibner Europa)

Die Zeit nach dem Unfall, sagt Thomas Dreßen, war seine schwerste, sie wird es vermutlich auch bleiben. Er hätte nach Mittenwald zurückkehren können, startete weiter für Gilching, "sie haben uns extrem unterstützt", sagt er, "dafür bin ich extrem dankbar". Er kletterte durch das Ausbildungssystem des DSV, gewann zwei Mal Silber bei der Junioren-WM (Abfahrt und Riesenslalom), stürzte und verletzte sich. Wenn ihn die Zweifel erfassten, kramte er die Erinnerungen an damals hervor. "Das war auch ein Ansporn, dranzubleiben. Da ging es nicht nur um mich, sondern auch um meinen Vater", sagt er. Er wechselte das Ressort, vom Riesenslalom zur Abfahrt: "Mir hat das einfach total Spaß gemacht." Im vergangenen Februar luden sie ihn nach Saalbach ein, zu seinem ersten Wochenende im Weltcup. "Da sind viele Sachen zusammengekommen", erinnert sich Dreßen. Freude, Dankbarkeit, die Erinnerungen an den Vater, der ihn in den Herbstferien mit dem Wohnmobil in die Skigebiete fuhr. Die wichtigsten Förderer im Nachwuchsbereich sind nicht Verbände oder Sponsoren, sondern die Eltern.

Dreßen sitzt an diesem Tag im Teamhotel der Deutschen in Gröden, Südtirol. Seine Brustmuskeln drücken gegen das weiße T-Shirt. Er hat im Sommer noch einmal an seinem Körper getüftelt, um die langen Abfahrtsskier besser ins Eis pressen zu können. Er wiegt jetzt 97 Kilogramm, bei 1,88 Metern Körpergröße. Am Wochenende wird er sich auf die tückische Saslong-Abfahrt stürzen, er wird das Ziel nicht erreichen; die ruppige Abfahrt zum Jahreswechsel in Santa Caterina lässt er ebenfalls aus, eine Knieprellung. Aber Dreßen reißt das nicht aus der Fassung. Erzählt ruhig über damals und heute, was morgen und übermorgen einmal sein soll. Vielleicht ist er auch deshalb so gefasst, weil er weiß, was eine echte Krise ist. "Für mich ist erst einmal das Ziel, am Start zu stehen und das abzurufen, was ich kann", sagt er. "Abfahrer wird man nicht binnen eines Jahres."

Die Skifahrer müssen in der Schule der Abfahrt aus vielen Rückschlägen lernen, bevor sich zarte Erfolge einstellen. Die Abfahrten im Weltcup sind eine rund drei Kilometer lange Abfolge von vereisten Kurven, Sprüngen, Wellen, Hängen, die ins Nichts fallen, es ist ein zweiminütiges Ringen mit der Schwerkraft, bei Tempo 130, 140. Ein Fehler kann Karrieren beenden. "Im Europacup", so etwas wie die zweite Liga des Skisports, "hast du fast immer genügend Zeit, dich auf die Hindernisse vorzubereiten", sagt Dreßen. "Im Weltcup ist die Geschwindigkeit, mit der das alles auf dich zukommt, viel höher." In den Trainingsläufen leuchtet er also erst einmal die Strecke aus. "Bei manchen Stellen musst du mit Kopf fahren, bei anderen einfach die Arschbacken zusammenkneifen und Gas geben", sagt er, "du musst erst die Strecke im Griff haben, dann kannst du darüber nachdenken, wo du Gas geben kannst." Dreßen versucht erst, eine Linie einzustudieren und auswendig zu lernen, bevor er etwas wagt. "Ich will nicht den vierten oder fünften vor dem zweiten Schritt machen", sagt er. Er greift sich vor jedem Training, vor jedem Rennen ein Lernziel heraus, vor dem Start sagt er es sich laut vor, zum Beispiel: "Heute muss ich sauber auf dem Außenski stehen." Am nächsten Tag ist es ein anderer Aspekt. So legt er jeden Tag einen neuen Stein ins Mosaik. Bis irgendwann ein großes Bild entsteht.

"Abfahrer wird man nicht binnen eines Jahres": Thomas Dreßen sieht seine erste vollwertige Weltcup-Saison als Lehrjahr. (Foto: Imago)

Wenn Mathias Berthold, Cheftrainer der deutschen Männer, über Dreßen spricht, rattert er die Komplimente herunter: "Thomas ist ein brutal sympathischer Mensch. Es ist toll, so einen in der Mannschaft zu haben." Und noch ein Vorteil: Dreßen lasse sich helfen. "Er ist im Training extrem zielstrebig, so wie alle in der Mannschaft", sagt Berthold, "er hat gute Voraussetzungen." Berthold lässt Dreßen bewusst auf die schweren Abfahrten los, in Beaver Creek, auch in Kitzbühel oder Wengen, es hilft ja nichts, er muss die Abfahrten irgendwann kennen lernen.

"Damit er im nächsten Jahr weiß, was los ist, wenn er wiederkommt", sagt Berthold.

© SZ vom 04.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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