Sie war schon öfters an der Bayerischen Staatsoper zu Gast. Ailyn Pérez sang hier die Violetta in "La Traviata" und die Adina im "Liebestrank". Geboren wurde sie in Chicago, 29 Jahre später debütierte sie bei den Salzburger Festspielen an der Seite von Rolando Villazón in "Roméo et Juliette". Seitdem ist sie ein international tourender Sopranstar. Nun singt sie die Alice Ford, die sie 2013 zum ersten Mal in Glyndebourne verkörperte, in der Neuinszenierung von Verdis "Falstaff" durch Mateja Koležnik an der Bayerischen Staatsoper. Die Premiere am 2. Dezember um 19 Uhr wird live und kostenlos über die Homepage der Staatsoper gestreamt und ist dort danach über Video-on-Demand für 14,90 Euro verfügbar. "Falstaff" ist Verdis letzte Oper, eine dicht gewobene Komödie, in der drei Damen den dicken, lebensfrohen Falstaff triezen, weil er zweien von ihnen in gleichlautenden Liebesbriefen Avancen machte.
SZ: Sie haben die Staatsoper als blühendes Haus erlebt. Wie fühlt es sich denn jetzt an?
Ailyn Pérez: Ich bin erst einmal dankbar, dass ich in dieser Zeit singen darf. Die Staatsoper hat sich eine ausgefeilte Struktur für unsere Sicherheit ausgedacht, wir werden oft getestet, probten mit Masken, halten Distanz, es gibt Farbcodes für die verschiedenen Gruppen. Aber natürlich fehlt das Publikum. Im ersten Lockdown gingen alle Künstler nach Hause und dachten sich Ideen aus, wie man etwas virtuell machen kann. In den USA gab es zum Beispiel Online-Charity-Galas, die wichtig für die Künstler waren. Mich hat die Situation damals vorbereitet auf das, was jetzt herrscht. Der Kontakt mit dem Publikum wurde durch Kamera und Drähte ersetzt.
Aber da fehlt doch etwas, zum Beispiel die Energie, die aus dem Zuschauerraum normalerweise kommt?
Oh ja! Aber wir haben grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Entweder wir spielen, oder wir spielen nicht. Hauptsache, die Attitüde stimmt. Es ist schwer für viele Menschen. Soll ich mir einen anderen Job suchen, soll ich bei Amazon arbeiten? Wenn man eine Künstlerin, eine Schauspielerin, ein Opernsängerin ist, gibt es etwas da drinnen, was man ausdrücken muss. Es ist auch meine Arbeit, etwas zu geben. Wenn wir nicht singen dürfen, geht es schlecht aus und hilft niemandem. Angst führt zu Stillstand, das ist wie ein Schock im System. Natürlich, Angst ist oft unlogisch. Vielleicht können wir sie überwinden, mit Arbeit und damit, kreativ zu sein.
Aber nun gibt es nur diese eine Aufführung vor Kameras?
Vielleicht ist es nicht ganz so intensiv, aber es muss doch weitergehen. Es gibt Kollegen, die Corona hatten, es geht vielleicht noch eine Zeit lang so weiter. Aber man kann etwas tun, was man will, bei aller Vorsicht. Ein Risiko existiert, aber das existiert auch im Leben. Auch ohne Corona gibt es genug Probleme. Und natürlich gibt es viele Menschen, die nun gefährdeter sind als andere. Ich überrede niemanden zu kommen. Wenn man wieder kommen darf. Aber so viele vermissen so viel.
Probten Sie schon im Sommer für "Falstaff" ? Die Premiere sollte ja bei den Opernfestspielen sein.
Nein, ich wäre bei der ersten Aufführungsserie ohnehin nicht dabei gewesen.
Jetzt dürfen Sie - und niemand schaut im Haus zu.
Aber es wird, es wird. An einem Repertoirehaus wie diesem wird diese Inszenierung ja immer wieder gezeigt. Wenn man sie jetzt nicht herausbrächte, wäre es ein großer Verlust. Finanziell. Wir machen alles fertig, und irgendein nächstes Team wird in dieser Inszenierung dann vor Publikum spielen können. Wenn die Häuser wieder öffnen, muss man bereit sein.
Vielleicht singen Sie hier dann die Alice Ford in zwei Jahren vor Publikum.
Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wichtig ist, dass die Inszenierung existiert. Wir Sänger wissen doch alle, dass die Besetzungen wechseln. Niemand ist sicher in einer Rolle in einer Inszenierung vom Anfang bis zum Ende von deren Laufzeit. Die Rollen gehören nicht den Sängern.
Die Staatsoper streamt eine "Bohème" von 1969. Da ist wohl niemand mehr von der Premierenbesetzung dabei.
Diese Plattformen, die Streaming machen, existieren ja schon viel länger als Corona. (Pérez sagt in ihrem fantasievollen Deutsch "platte Formen" statt "Plattformen.) Ich bin kein großer Fan davon, aber für die, die keine Chance haben, ins Theater zu gehen, ist es natürlich wichtig. Aber selbst auf dem billigsten Platz ist es ein anderes Gefühl, wenn man im Theater sein kann. Das Leben gehört dem Mensch, und die Beziehung braucht Zeit und Kontakt.
Was machten Sie denn im ersten Lockdown?
Ich war traurig, ich hatte eine totale Depression. Ich bin eine sehr sensible Person, wenn ich Nachrichten anschaue, fühle ich das. Ich musste anderes machen, Sport zum Beispiel, und musste sehr klug sein, um an etwas anderes zu denken. Ich kann nicht singen, wenn ich traurig bin. Für das geschlossene Lincoln-Center habe ich ein mexikanisches Lied gesungen, auch für Lateinamerikaner und Afro-Amerikaner, die oft keine Möglichkeit haben, ins Krankenhaus zu gehen oder einfach nicht das Geld dafür. Das ist so traurig, dazu die Brutalität im Umgang mit Black Lives Matter.
Und dann noch Trump.
Er besitzt eine große Energie gegen alle, die nicht weiß sind. Es ist Wahnsinn. Wie erklärt man das jemandem?
Positionieren Sie sich politisch bewusst als Latina?
Persönlich ja. Ich bezeichne mich als Mexican-American. Trump sagte so viele hässliche Dinge gegen Mexikaner. Wenn man ein Label verwendet, separiert man. Wenn man aber seine Herkunft verleugnet, verliert man etwas. Deswegen sage ich Mexican-American. Wir sind Amerikaner. Und Mexikaner.
Haben Sie das Gefühl, dass der Rassismus, den Trump offensichtlich vorantrieb, Sie dazu drängt, dieses Label zu verwenden?
Es hat nichts mit Trump zu tun. Der war nur wie ein Scheinwerfer. All das existierte bereits ohne ihn. Ich hoffe, dass die jüngere Generation die Möglichkeit hat, sich weiterzubilden, auch Jobs zu kriegen. Mein erstes Engagement in Deutschland war 2008 - und ich habe gesehen, wie multikulti eine Gesellschaft sein kann.
Wo waren Sie da?
In Berlin.
Nun gibt es Gegenden in Deutschland, da denken Sie nicht so intensiv an multikulti.
Gut, es gibt alles in der Welt. Meine Hoffnung sind die großen Städte, in denen die Kultur auf ihrem Höhepunkt ist. Da kann eine Öffnung passieren. Wir können nicht total egalitär sein, aber wir können es versuchen. Kommt weiter, kommt weiter.
Sie sind optimistisch.
Ich muss es sein. Ich bin eine Frau. Es liegt mir im Blut, optimistisch zu sein. In meiner Familie existiert kein Nein. Es gibt immer eine Möglichkeit. Meine Seele neigt zur Tragödie, aber das hilft ja nichts, wir müssen optimistisch sein für die Zukunft.
Sie haben also eine pessimistische Seele und einen optimistischen Geist.
Genau! Wenn ich optimistisch bin, heißt das, ich habe meine Arbeit gemacht.
Und jetzt dürfen Sie in "Falstaff" eine Frau verkörpern, die recht fröhlich ist.
Ja, es ist ein Spaß, sie zu spielen. Aber ich habe keine Ahnung, wer sie eigentlich ist. Die Oper fließt so schnell, dass ich keine Ahnung habe, was ich gerade gemacht habe, und jedes Mal versuche ich, mehr als die Realität zu sprechen oder zu singen. In "Falstaff" gibt es einen einzigen Moment, der über das Rasante hinausgeht, der Monolog von Falstaff zu Beginn des dritten Akts.
Und der ist sehr berührend. Da fragt man sich doch immer: Weshalb sind die Frauen so gemein zu ihm? Der ist doch harmlos.
Ja genau. Aber wenn zwei Frauen jeweils einen Brief mit den identischen Worten erhalten, dann mögen die das nicht. Sie wollen die einzige sein.
Aber das ist doch eher ein drolliges Malheur.
Die Wahrheit ist diese Oper, die rast wie Formel 1. Es gibt keine Zeit, ein Überdenken, ein Rückblicken zu spielen. Ich liebe Falstaff. Wenn Wolfgang Koch kommt und zur Gitarre singt, ach, was mache ich denn da? Ich genieße es! In dieser Regie hier fühle ich mich so, als ginge ich immer wieder durch ein Tor und befinde mich in einer anderen Situation, sehr fokussiert aufs Spielen. Das ist ein sehr tolles Gefühl. Sie müssen wissen...
Was denn?
Nein, Sie müssen es sich anschauen. Ich verrate nichts. Mysterio! Wenn Sie danach eine Frage haben, melden Sie sich!
Bleibt noch die Frage, weshalb die Damen gar so garstig zu Falstaff sind.
Nun, sie haben Zeit, gemein zu sein. So wie man sich in der Realität vielleicht über eine Fernsehsendung oder einen Chef aufregen kann. Wenn man Zeit dazu hat. Diese Oper hat vielleicht nichts mit netten Menschen zu tun, sondern damit, welche Wörter wir ausprobieren und wie diese fließen. Das ist auch ein Spiel, ein Weg zu leben. Es ist die Lust zu sprechen, einen Punkt zu machen. Und jeder will das letzte Wort haben, die Frauen hier ganz besonders. Ist das gemein? Ja, aber es macht auch Spaß.
Die Damen könnten Falstaff dankbar sein, sorgt er doch für Unterhaltung in ihren langweiligen Gattinnenleben.
Exakt. Die sind alle gelangweilt. Ich denke, wir tun Sachen, nur weil uns langweilig ist. Falstaff ist einfach da, er lebt, er ist groß, aber er probiert noch etwas. Perfektion ist langweilig, Nettigkeit ohne ein bisschen Kampf ist auch langweilig. Mir persönlich darf man zum Beispiel nicht sagen, ich dürfe etwas nicht tun. Es ist meine Natur, es gerade dann zu tun. Was dann hässlich oder lecker ist, ist dann doch erst einmal eine Meinung.
Sind Sie verheiratet?
Nein.
Falstaff, Mittwoch, 2. Dezember, 19 Uhr, Bayerische Staatsoper, www.staatsoper.de/tv