München ist die sicherste Großstadt Deutschlands. Jährlich verzeichnet das Polizeipräsidium einen Rückgang der Straftaten in der Landeshauptstadt - 2015 registrierte die Polizei 14 Prozent weniger Delikte im Vergleich zu 2005. Trotzdem fühlen sich viele Münchner zunehmend unsicher in der Stadt. Im Büro von Oberbürgermeister Dieter Reiter, bei den städtischen Konfliktmanagern und bei der Polizei häufen sich die Beschwerden von Münchnern, die befürchten, dass in ihrem Viertel ein sozialer Brennpunkt entsteht - mit Drogendealern, gewalttätigen Betrunkenen, mit Bettlern und Obdachlosen.
Politik, Polizei und Behörden reagieren fast schon reflexartig auf diese gefühlte Unsicherheit: Im und um den Hauptbahnhof gilt künftig nachts Alkoholverbot, um die Szene dort zu zerstreuen; der Alte Botanische Garten soll besser einsehbar und aufgeräumter werden, damit Obdachlose dort nicht mehr schlafen und Drogenabhängige nicht mehr unbemerkt konsumieren können.
Videoüberwachung:Jeder muss sich um sein subjektives Sicherheitsgefühl kümmern
Denn mehr Videoüberwachung sorgt nicht für mehr Sicherheit - schon gar nicht in Nächten, in denen so viel los ist wie an Silvester.
Bereits 2014 erließ die Stadt eine Allgemeinverfügung, wonach aggressives Betteln in der Altstadt und rund um den Hauptbahnhof verboten ist. Im Stadtrat werden immer wieder Forderungen nach noch mehr Überwachungskameras laut und nach Pollern, die öffentliche Plätze besser vor Attentätern schützen sollen. Und derzeit erarbeitet das Kreisverwaltungsreferat ein Konzept, wie mit einem vom Stadtrat beschlossenen kommunalen Sicherheitsdienst die Arbeit der Polizei an sogenannten Brennpunkten unterstützt werden kann.
Niemand höre auf, sich Heroin zu spritzen, "weil da eine Überwachungskamera hängt"
Jan Wehrheim sieht die Entwicklung zu einer "Überwachungsgesellschaft" skeptisch. "Mit dem Thema Sicherheit wird Wahlkampf betrieben und gerade hochgradig instrumentalisiert", sagt der Professor für Soziologie an der Universität Duisburg-Essen. Für Wehrheim ist gerade die Verdrängung von sozialen Randgruppen - Obdachlose, Bettler, Wohnungsflüchter und Drogenkonsumenten - problematisch. Niemand höre auf, sich Heroin zu spritzen, "weil da eine Überwachungskamera hängt". Er beobachtet vielmehr, dass diese Menschen, die eigentlich Hilfe bräuchten, durch Überwachungssysteme, Polizei und Sicherheitsdienste "in andere Stadtteile verdrängt werden, wo die politische Aufmerksamkeit geringer ist".
Das Phänomen ist auch in München bekannt. Durch die strengen Auflagen für Bettler in der Altstadt sind einige weitergezogen - viele in andere Städte, aber auch innerhalb Münchens, zum Beispiel in die Maxvorstadt. Die örtliche CSU will schon beobachtet haben, dass die Zahl der Menschen, die aggressiv um Geld betteln, in dem Stadtbezirk "stark zugenommen" hätten. Tatsächlich gibt es seit der Allgemeinverfügung für weite Teile der Altstadt vereinzelt Bettler auch in anderen Vierteln. Doch viele sind es nach Angaben der Polizei ohnehin nicht. In der Altstadt und rund um den Hauptbahnhof sollen es 70 bis 80 Menschen sein, die auf dem Gehweg um Geld bitten. Und von sogenannten Bettlerbanden ist den Münchner Streetworkern ohnehin nichts bekannt.
Aber die gefühlte Unsicherheit ist bei vielen Menschen trotzdem vorhanden. Das kann nach Ansicht von Wehrheim auch daran liegen, dass in bestimmten Gebieten mehr Polizei oder private Sicherheitsdienste patrouillieren. Vielfach würde das Auftreten von bewaffneten Uniformierten die Menschen "an Unsicherheit erinnern": Wo Sicherheitspersonal ist, könnte es ja unsicher sein. Aufgeschreckt waren viele Bewohner von Untergiesing, als im vergangenen Mai ein Großaufgebot der Polizei am Kolumbusplatz auffuhr. Nach Hinweisen von besorgten Anwohnern, dass sich im Umkreis eine Rauschgiftszene etabliert habe, kontrollierte die Polizei vor allem junge Leute, die sich dort aufhielten, nach Drogen: Bei einigen wurden zwar tatsächlich Rauschmittel, überwiegend Kräutermischungen und ein Joint gefunden, aber die Mengen waren so gering, dass die Polizei davon ausging, dass es sich um Eigenbedarf gehandelt habe.
Viele Bewohner der Gewofag-Anlage blieben trotzdem skeptisch. Am 7. Oktober lud deshalb das "Allparteiliche Konfliktmanagement in München" (Akim) zu einem Informationsnachmittag ein. Die Anwohner berichteten von nächtlichen Exzessen rund um den Platz, davon, dass Kinder vom Spielplatz vertrieben werden, von alkoholisierten Obdachlosen. Die Konfliktmanager des Sozialreferats nehmen solche Beschwerden ernst. "Das sind die Schattenseiten von Urbanität", räumt Brigitte Gans ein. Die Sozialarbeiter von Akim versuchen in solchen Fällen mit allen Beteiligten zu reden - mit den Anwohnern, die sich bedroht oder belästigt fühlen, aber auch mit den Jugendlichen und den Obdachlosen. Zu einer Stadt gehöre es eben dazu, dass sich alle Menschen an einem Platz aufhalten, die den öffentlichen Raum brauchen. "Wir wollen sie nicht vertreiben, sondern der Platz müsste so gestaltet werden, dass sich jeder dort aufhalten kann", sagt Eva Jüsten, Leiterin des Akim-Projekts. Im Fall des Kolumbusplatzes gibt es in unmittelbarer Nachbarschaft ein Männerwohnheim und die von Sozialpädagogen betreute Jugendpension JuP der "Wohnhilfe München".
Ein gewisses Maß an "Aushalten" könne dazu führen, sich sicherer zu fühlen
Plätze so zu gestalten, dass sich Menschen dort wohlfühlen und keine Angsträume entstehen, ist eigentlich Aufgabe des Planungs- und des Baureferats. Aber die Konfliktmanager geben ihre Erfahrungen weiter, wenn es Räume gibt, an denen Münchner sich unwohl fühlen. Ein Ort, an dem sich die Bewohner des Viertels nach seinem Umbau schnell wohlfühlten, ist der Memminger Platz in Moosach. Auf Wunsch des Bezirksausschusses entstanden auf der ehemaligen Brache hinter dem S-Bahnhof ein runder Streetballplatz für Jugendliche, eine kleine runde Grünfläche zum Sitzen und ein rundes Tagescafé. Im Rahmen einer Fachtagung, zu der das Sozialreferat am 20. Januar einlädt, wird Architektin Angelika Zwingel den Memminger Platz dem Kolumbusplatz als Beispiele des öffentlichen Raums gegenüberstellen.
Oft sind es ganz einfache und günstige Lösungen, die einem Ort die gefühlte Unsicherheit nehmen. In den vergangenen Jahren wurden zahlreiche Fuß- und Radwegunterführungen etwa an der Isar von Graffiti-Künstlern bunt gestaltet, was die Röhren gleich freundlicher wirken lässt. Der Wiener Platz in Haidhausen wurde auf Druck des Bezirksausschusses 2002 von einem Parkplatz zum Marktplatz umgestaltet und zählt längst zu einem der beliebtesten Orte der Münchner. Oder die Paul-Heyse-Unterführung am Hauptbahnhof: Viele Jahre lang weigerten sich die Deutsche Bahn und auch das Baureferat, die dunkle heruntergekommene Röhre grundsätzlich zu sanieren. Jetzt sollen endlich ein besonderes Lichtkonzept und runderneuerte Wände die 210 Meter lange Brückenkonstruktion für Fußgänger und Radler erträglich machen.
Für den Soziologen Jan Wehrheim wirken aber auch Orte, die geradezu auf Hochglanz poliert sind, für manche Menschen ausgrenzend. Die Fünf Höfe, die Hofstatt und andere Einkaufspassagen würden durch Chrom, Marmor oder Granit "unerwünschte Personen abschrecken", die nicht dem erwünschten zahlungskräftigen Konsumenten entsprechen. Die Tendenz ist für ihn klar: "Räumliche Trennung scheint zur Maxime Innerer Sicherheit in Städten zu werden." Dabei würden seiner Meinung nach in vielen Fällen Toleranz und ein gewisses Maß an "Aushalten" dazu führen, dass sich Menschen sicherer fühlen - auch ohne Sicherheitsmaßnahmen.