Literatur:Hellsichtig

Lesezeit: 2 min

Während einer Lesereise im Jahr 2016 entstanden die Ukraine-Gedichte des Schriftstellers Reiner Kunze. (Foto: Dionys Asenkerschbaumer)

Der Schriftsteller Reiner Kunze hat seine Ukraine-Gedichte bereits 2016 geschrieben. Doch die Verse sind schmerzhaft aktuell.

Von Sabine Reithmaier, Erlau

"Ein blauer himmel über einem weizenfeld - so stand / bei minus zwanzig grad am straßenrand /das klavier // und die einen spielten / die hymne und Chopin,/ und die anderen zielten / auf die hymne und Chopin". Entstanden ist Reiner Kunzes "Revolutionsgedicht" im Jahr 2016, als er mit seiner Frau Elisabeth in die Ukraine reiste, um den Literaturwissenschaftler und Übersetzer Petro Rychlo bei der Vorstellung eines zweisprachigen Auswahlbands seiner Gedichte in Kiew und Czernowitz zu unterstützen. "Sensible Wege", so der Titel, war die erste repräsentative Ausgabe seiner Werke in der Ukraine.

Kunze habe wegen seiner konsequenten politischen Position als Dissident in der ehemaligen DDR wenig Chancen gehabt, im postsowjetischen Kulturraum bekannt zu werden, schrieb Herausgeber Rychlo damals in einem einführenden Text. "Diese Tatsache bildet eine frappante Dissonanz zur Beliebtheit seiner Gedichte, die zu den feinsten Artikulierungen zeitgenössischer deutscher Lyrik gehören, in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern." Kunzes Gedichte waren zu diesem Zeitpunkt bereits in mehr als 30 Sprachen übersetzt worden.

Die Beobachtungen des Schriftstellers während seiner Lesereise mündeten in eine Reihe von Ukraine-Gedichten, nachzulesen in seinem 2018 erschienenen Gedichtband "die stunde mit dir selbst" (Fischer). Hellsichtig nahm er die Schrecken der Wirklichkeit in seiner Umgebung wahr. Sah die Ukraine als "land / verstümmelt, veruntreut / verraten". Sucht im "Ukrainische Nacht" betitelten Gedicht das Gespräch mit zwei Dichtern aus Czernowitz: mit Rose Ausländer, deren Vers "Der Karpatenrücken... / lädt dich ein / dich zu tragen" er dem seinen voranstellt. Und mit Paul Celan, "des dichters, dessen wort wir in uns tragen: / Der Tod ist ein Meister aus Deutschland / Doch weiß man hier, der tod / kam nicht aus Deutschland nur, er kam / mit zweierlei gesicht,/ und riesig ist das land, wo man / ihm blumen steckt und ruhmeskränze flicht." Die Anspielung auf Russland ist nicht zu überlesen, genauso wenig wie die Mahnung zur Wachsamkeit vor Kriegstreibern.

Die Kraft zum Widerstand kommt aus der Kunst

Die Gedichte wirkten wie ein Kommentar zum gegenwärtigen Krieg Russlands gegen die Ukraine, findet Heiner Feldkamp, Mitglied des Stiftungsrats der Elisabeth-und-Reiner Kunze-Stiftung. "Ein poetischer Kommentar, der sich einbrennt ins Herz und ins Gedächtnis." Der Ausbruch des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine habe den inzwischen 88-jährigen Kunze sehr erschüttert, berichtet er. Der Dichter und seine Frau Elisabeth leben seit 1977, als sie nach jahrelangen Schikanen und Bespitzelung durch die Staatssicherheit die DDR verließen, in Obernzell-Erlau im Landkreis Passau. Nach ihrem Tod soll sich ihr Wohnhaus in ein Museum wandeln, in "eine Stätte der Zeitzeugenschaft und einen Ort des Schönen", dazu beitragen, ",Antikörper' zu bilden gegen ideologische Indoktrination" (Kunze) und gleichzeitig zum Widerstand gegen totalitäre Gesellschaften ermutigen. Aber auch zeigen, woher die Kraft kam zu widerstehen: aus der Kunst.

Kunzes lebenslanges Anschreiben gegen die Verkehrung von Tatsachen drückt sich auch im "Diebeslied" aus, einem Gedicht, das die Okkupation der Krim thematisiert. "Zeig dem Land, das dich betört, / das dir aber nicht gehört, / deine fürsorgliche liebe, /schenk ihm eine nacht der diebe, / die es stehlen ohne skrupel / und verkünde dann mit jubel / was dir pflicht war heimzuholen / kann nicht gelten als gestohlen."

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: