Figurentheater:Zwiegespräch mit Drachen

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Drache "Momm" und Känguru "Shri": Für das Stück "Katastrophe, Katastrophe" hat Tine Hagemann die beiden Puppen gebaut. (Foto: Catherina Hess)

Tine Hagemann baut Puppen mit einer großen Liebe zum Detail und spielt sie dann auch - so intensiv, dass man glauben könnte, sie wären lebendig.

Von Nicole Graner, München

Momm sitzt auf dem Schoß von Tine Hagemann. Und Shri auch. Kaum sitzen sie da, erwachen die beiden Puppen plötzlich zum Leben. "Hey", sagt der mintfarbene Drache im Samtfell selbstbewusst und mit einer etwas rauchigen Stimme, die aber alles andere als furchteinflößend ist. "Wir müssen mutig sein und das Knurz fangen." Momm mault noch nach - allerdings schon ein bisschen weniger kraftvoll: "Müssen wir. Unbedingt!" Das Knurz?

Kurz: die Katastrophal-Nominell-Unglaubliche-Riesen-Zerstörung. "Aber, aber... wie machen wir das nur?", fragt Shri, das Albino-Känguru mit seiner spitzen Schnauze und einer piepsigen Stimme. Sehr schüchten, sehr verzagt und sehr zittrig. "Momm, das schaffen wir nicht!"

Natürlich schaffen sie es. Aber um diese Geschichte soll es hier nicht gehen, sondern um die Frau, die solche Puppen für viele Bühnen und Produktionen baut, ihnen eine so feine Physiognomie schenkt, dass man immer glaubt, ihre Menschen, ihre Tiere könnten im nächsten Moment den Kopf drehen - und zu sprechen anfangen.

Puppenspiel ist eine "Anreicherung des Theaterspiels"

Eigentlich ist die 36-Jährige, die im Münchner Westend wohnt, Schauspielerin. Sie studierte an der Athanor Akademie für darstellende Kunst in Burghausen. Doch dann wohnt Tine Hagemann mit einer Puppenspielerin zusammen und ist begeistert von der Kreativität und Vielseitigkeit des Puppenspiels. Stimme verstellen, Dialekte nachmachen, ja, das sei bei ihr auch immer schon da gewesen, sagt sie, aber diese Form der darstellenden Kunst sei eine "Anreicherung des Theaterspiels" gewesen.

"Wenn man eine Puppenspielerin ist, dann kann man weiter von sich selbst weggehen", so beschreibt es Hagemann. Verschmilzt nicht, wie in der Schauspielerei, so sehr mit der angelegten "Kunstfigur". Was für sie heißt, dass zwischen dem Ich und dem Anderen eine Distanz entsteht. Sagt es und wendet sich Momm zu, der gerade in sich zusammengesunken auf ihrem Oberschenkel sitzt.

Puppentheater. "Da darf man einfach mehr", sagt Hagemann. Der Kasperl zum Beispiel, der dürfe doch einfach alles. Sie lacht. Und ihre Augen ziehen sich so zusammen, dass sich kleine Fältchen nicht nur in den Augenwinkeln bilden, sondern auch darunter. Mal sei man Kind, mal Erwachsener, mal Tier. Jung, alt, lustig. Ein Kauz oder eben ein mutiger Drache wie Momm.

"Ich habe gemerkt, wie viel Spaß mir das alles mit den Puppen macht. Und plötzlich nimmt man sich selbst einfach nicht mehr so bierernst." Diese Feststellung nimmt man ihr auch ab. Denn es macht solche Freude, mit ihr zusammen ihre Puppen zu bewegen, zusammen in Fantasiegeschichten abzutauchen, selbst die Stimme zu verstellen - und kurz ein großes Kind zu sein.

Die erste selbst gebaute Puppe: eine große Möwe mit langen, orangefarbenen Beinen. (Foto: Catherina Hess)

Tine Hagemann macht am Figurentheater-Kolleg Bochum und später an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch/Abteilung Puppenspiel eine Weiterbildung und lernt die Berliner Puppenspielerin Suse Wächter kennen. Mit ihr zusammen baut sie 2013 für die Produktion "Der Untergang des Hauses Usher" im Münchner Marstall-Theater die ersten Puppen. "Dass ich das konnte, war einfach wunderbar" , sagt sie. "Ich habe unglaublich viel von ihr gelernt."

Später fertigt sie ihre erste eigene Figur: eine Möwe. Mit ziemlich großem Schnabel. Ewig langen, orangefarbenen Beinen. Das weiße Federkleid sind kleine, gefütterte, aufgebauschte Stoffwülste. Dann kam die erste Auftragsarbeit. "Das war eine große Sache für mich", erinnert sich die 36-Jährige. Die Puppen, die gebaut werden mussten, waren riesig. Bis 1,20 Meter groß.

Zuerst baut Hagemann Köpfe aus Ton

Momm ist noch immer schweigsam. Aber dann zeigt Hagemann ihrem Gegenüber, wie es geht. Die Hand fährt von hinten in Momms Kopf. Dabei wackeln seine Drachen-Zacken hin und her. Vier Finger legen sich oben und der Daumen unten in die dafür vorgesehenen Fächer. Schon kann Momm sein Maul aufsperren. Und ja, sprechen. Denn es geht nicht anders: In dem Augenblick, in dem Momm beweglich wird, beginnt - und so muss es Tine Hagemann auch gehen - das Zwiegespräch zwischen Puppe und Mensch. "Hey, Momm", sagt die fremde Spielerin sofort mit verstellter, tiefer Stimme und macht erste Puppenspiel-Versuche. "Hey, du", antwortet Momm.

Tine Hagemanns Werkstatt: ein kleines Zimmer zuhause. (Foto: Catherina Hess)

"Klappmaulpuppen" wie die Möwe, wie Momm und Shri baut Hagemann oft. Ein kleines Zimmer in der Familienwohnung ist ihre Werkstatt. Mit kleiner Werkbank. In der Ecke stehen Plastikboxen. Voll mit Stoffen. Gerade erst hat die Mutter von zwei Kindern einen Vogelkopf aus einer Gipsform geholt, die sie vorher "kaschiert", also mit vielen Lagen kleingeschnittenem Packpapier ausgefüllt und verklebt hat. Dann hat sie den getrockneten Kopf aus geschichteter Pappe vorsichtig längs aufgeschnitten. Die zwei Hälften werden später zum beweglichen Schnabel.

Haare von zerschnittenen Perücken, Glasaugen, modellierte Köpfe und bewegliche Gelenke für Arme und Beine: Tine Hagemann überlegt genau, welche Charaktere die Puppen darstellen sollen. (Foto: Catherina Hess)

Bevor der Kopf aber überhaupt im Gips verschwunden ist, musste die Puppenspielerin ihn, und das ist die eigentliche Herausorderung, zuerst aus Ton fertigen. Augen, Schnabel, die "Gesichtsform", der Blick - alles muss in den Ton hineingearbeitet werden. Oft wickele sie das unfertige Stück, sagt Hagemann, in feuchte Tücher, damit sie dann Stunden später daran weiterarbeiten könne. Solange, bis eben alles stimmt. Augenbrauen, Nase, die Wangenpartie.

Der "kaschierte" Tierkopf in der Negativ-Gipsform braucht lange, bis er endgültig getrocknet ist. (Foto: Catherina Hess)

Der Vogel soll übrigens ein Huhn werden. Für einen Film. Vorlagen für die Tierköpfe holt sich die Puppenbauerin aus Büchern, dem Internet. Und natürlich ist es wichtig, für Produktionen wie im Schuberttheater Wien, im Tams Theater oder Pathos Theater in München mit Regisseur und Puppenspielern genau die Rolle der Puppe abzusprechen. Also, präzisiert Hagemann, zu klären, was die Puppe überhaupt leisten, welchen Charakter sie haben muss. "Dann überlege ich mir, was schaffe ich da für ein Wesen." Ein Wesen, das gleichermaßen die Großen und die Kleinen begeistert.

"Puppentheater ist nicht nur etwas für Kinder. Für mich ist es ganz wichtig, dass alle bei einem Stück etwas mitnehmen", sagt sie. Und ganz liebevoll blickt sie auf die Puppen, die in ihrer kleinen Werkstatt mit ihr "leben". Das kann man wirklich so sagen. Denn die Puppen sind Teil von Hagemanns Familie. Besonders für ihre Kinder, fünf und sieben Jahre alt. Da liegen Momm oder Shri auch schon mal in dem einen oder anderen Bett. Als Kuscheleinheit. Als Trostspender.

Hagemann streichelt, während sie spricht, ganz unbewusst Momm. Und sie spricht von der Magie des Moments, also dann, wenn alles stimmt, alles ineinander fließt. Wenn die Geschichte berührt, wahrhaftig ist und die Figuren die Fantasie des Zuschauers beflügeln. Was in diesen Augenblicken dann jeder in den Figuren sieht, ist ihr egal.

Sie schlüpft mit ihren Händen in die Puppen. Momm und Shri. Die Köpfe bewegen sich, die Münder gehen auf. "Du, Momm?" "Ja, Shri?" - und eine neue Geschichte beginnt.

"Katastrophe, Katastrophe!": Singspiel mit Puppen und Live-Musik für Menschen von vier Jahren an. Donnerstag, 24. Februar, 16 Uhr, Kulturzentrum Luise, Ruppertstraße 5. Karten unter: www.luise-kultur.de

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