Musiktheater:In den Fängen der Ausbeuter

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Der Schornsteinfeger (Holger Ohlmann, r.) und sein Gehilfe (Moritz Kugler) scheuchen den kleinen Sam (Oskar Morris-Spaeth) den Kaminschlot hinauf. (Foto: Christian Pogo Zach)

Benjamin Brittens Kinderoper "Der kleine Schornsteinfeger" erzählt ein Märchen mit Happy End. Die Inszenierung des Staatstheaters am Gärtnerplatz in der Reithalle zeigt auch die bittere historische Wahrheit dahinter auf

Von Barbara Hordych

Die Angst vor dem Schornsteinfeger, "dem schwarzen Mann", dürfte für Kinder ebenso Furcht einflößend sein wie die Vorstellung, in einem engen Schornstein festzusitzen. Aber was soll man erst sagen, wenn beides zusammenkommt? In diese wortwörtliche Klemme gerät der achtjährige Sam, der von seinen armen Eltern an den brutalen Schornsteinfeger Black Bob verkauft wurde. Der schickt den kleinen Jungen an seinem ersten Arbeitstag die Schornsteine des herrschaftlichen Anwesens der Familie Brook hinauf, um die engen, verrußten Schlote zu fegen. "Er zittert ja vor Angst", stellt Rowan, das Kindermädchen der Familie Crome, die derzeit mit ihren Schützlingen in dem Haus zu Besuch weilt, beim Anblick des völlig verstörten Jungen fest.

Sie ist damit die einzige Erwachsene in Benjamin Brittens Kinderoper "Der kleine Schornsteinfeger", die Mitleid mit dem hilflosen Kerl empfindet. Denn die anderen Erwachsenen in der Inszenierung des Staatstheaters am Gärtnerplatztheater, die jetzt in der Reithalle Premiere hat, sind gnadenlos. Allen voran der Schornsteinfeger und sein Gehilfe. "Nein, nein, das sind Tränen der Dankbarkeit, der freut sich drauf", gibt Black Bob dem Kindermädchen zynisch zur Antwort. Und zieht den kleinen Sam ruppig am Ohr - eine Szene, die nahezu identisch auf einem historischen Schwarz-Weiß-Foto hinter den beiden abgebildet ist. Auch dort hat ein Schornsteinfegermeister einen gequält dreinblickenden Kaminkehrerjungen unsanft am Ohr gepackt. Überhaupt sind die historischen Fotos zur Kinderarbeit im Bühnenbild allgegenwärtig - im Hintergrund wie auf den Ausstellungswägen mitten im Geschehen: Sie zeigen schmächtige Knaben mit viel zu früh gealterten Gesichtern, die als Grubenkinder oder Kaminkehrerjungen missbraucht wurden.

Diese bedrückende historische Wahrheit hält Regisseurin Susanne Schemschies in ihrer Inszenierung bewusst präsent, "um einen Gegenpol zu der märchenhaften Geschichte mit Happy End zu schaffen". Denn die erzählt mit fortschreitender Spielhandlung von der spontan entstehenden Freundschaft zwischen dem armen Sam und den sechs fein gekleideten, reichen Brook- beziehungsweise Crome-Kindern. Die nimmt ihren überraschenden Anfang, als Sam im Kamin stecken bleibt und laut um Hilfe ruft. Die im Haus spielenden Kinder hören ihn, ziehen ihn mit einem Seil aus dem Kamin und beschließen kurzerhand, ihm zur Flucht zu verhelfen. Sie legen falsche Rußspuren, denen die Schornsteinfeger bald (vergeblich) hinterherjagen, sie baden und verstecken ihn über Nacht. Nur ihr Kindermädchen Rowan weihen sie in ihren Plan mit ein. Um so am nächsten Morgen bei der Abreise des Besuchs den kleinen Sam in einer Kiste zusammen mit dem Gepäck aus dem Haus in die Freiheit zu schleusen.

Benjamin Britten hat dieses kurze Stück vom "Kleinen Schornsteinfeger" 1949 für Kinder geschrieben - Kinder im Publikum wie auf der Bühne. Ausgangspunkt war die Überlegung, wie man dem Nachwuchs die hohe Kunst der Oper näherbringen könne. Dabei kamen der Komponist und sein Textdichter zu dem Ergebnis, dass es doch das Beste sei, ihn selbst eine aufführen zu lassen. Und so entstand ein dreiteiliges pädagogisches Werk namens "Let's Make an Opera!", in dem vor den Augen der Zuschauer eine einfache Oper einstudiert und das Publikum angeleitet wird, die Chöre mitzusingen. Der dritte Part, die Kinderoper "Der kleine Schornsteinfeger" mit der Besetzung Streichquartett, Klavier und Schlagzeug, zählt bis heute zu den beliebtesten Werken des musikalischen Kindertheaters.

Für die Rahmenhandlung der Gärtnerplatztheater-Produktion hat sich Regisseurin Susanne Schemschies allerdings etwas Neues ausgedacht. "Wir haben das Bühnenbild in den Farben Schwarz, Rot und Weiß als Museum zur Geschichte der Kinderarbeit gestaltet", sagt sie in einer Probenpause. In dieses Museum gerät eine Gruppe von jungen Pfadfindern, die sich zunächst die Ausstellungswägen anschauen; später dann wirken sie als Darsteller oder als Chorsänger im Stück mit. "Mir ist es wichtig zu zeigen, dass die Ausbeutung von Kindern in Mitteleuropa eine bittere Wahrheit war - und leider auch noch heute ist, in Asien, Afrika und Lateinamerika", sagt Schemschies. Das illustrieren die Videosequenzen, die Susanne Schemschies am Ende der Aufführung auf die Rückwände der Ausstellungswägen projizieren lässt: Kinder schleifen Diamanten, schleppen Kakaofrüchte durch die heiße Sonne, knüpfen Teppiche in stickigen Fabriken oder hantieren ungeschützt mit giftigen Färbestoffen.

Wie haben ihre Jungdarsteller auf diese Realität reagiert? "Es hat sie schon mitgenommen, als sie erfuhren, wie diese Kinder leben, sie konnten sich gar nicht vorstellen, dass sie nicht zur Schule gehen", sagt Schemschies. Andererseits habe der Kinderchor des Gärtnerplatztheaters unter der Leitung von Verena Sarré auch schon an Aufführungen des Musicals "Oliver Twist" und der Kinderoper "Brundibár" aus dem KZ Theresienstadt mitgewirkt. "Geschichten für Kinder auf die Bühne zu bringen, bedeutet ja nicht, sie in eine heile Welt zu hüllen", sagt die Regisseurin.

Der kleine Schornsteinfeger , Mittwoch, 6. April, 10.30 Uhr (Premiere), Freitag, 8. April, 18 Uhr, Sonntag, 10. April, 15 Uhr, Reithalle, Heßstr. 132

© SZ vom 06.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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