Münchner Momente:Die Schere geht auseinander

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Monatelang ist München kollektiv verfilzt. Doch damit ist jetzt Schluss. Der Nachbar präsentiert schon stolz sein gestutztes Haar, doch der eigene Friseurtermin lässt auf sich warten

Glosse von Jakob Wetzel

Irgendetwas läuft falsch in dieser Pandemie. Die Chinesen haben das Virus besser unter Kontrolle, oder sie tun zumindest so. Die Israelis impfen schneller. Die Dänen testen zehn Mal so viel, sogar in Österreich gibt es mehr Tests. Und jetzt war zu allem Überfluss auch noch der Nachbar beim Friseur. Dabei ist der eigene Termin erst Ende März.

Es wird etwas zerschnitten in diesen Tagen, die Schere geht wieder auseinander. Monatelang ist München kollektiv verfilzt. Braune, blonde, rote, schwarze Haare sind vom Kopf über die Ohren gewachsen, aus Krägen herausgewuchert, unter Mützen hervorgekrochen, und irgendwann sahen alle aus wie Rübezahl, Rapunzel oder Pumuckl mit dunklem Haaransatz, aber hey! Alle saßen im selben Boot. Oder besser: Alle hockten in ihrer Neandertaler-Höhle vor demselben Lagerfeuer. Die langsame Verwandlung aller Menschen in Yetis war zweifellos mit der beste Teil der deutschen Gesamtstrategie. Doch damit ist jetzt Schluss.

Denn jetzt sind sie überall, auch in der Zeitung: Frisuren, Frisuren, Frisuren! Die Haare sind ein Statement, und Schamlosigkeit breitet sich aus. Was früher der ausgefahrene Ellbogen war, ist jetzt der Kurzhaarschnitt. Talkshows im Fernsehen machen noch weniger Sinn als vorher, denn alle schauen allen nur noch auf den Schopf, und Karl Lauterbachs von Haaren überwuchertes Ohr ist viel mehr als nur Karl Lauterbachs von Haaren überwuchertes Ohr, keine Ahnung was die da reden. Wer eine Mütze trägt, hat etwas zu verbergen: Ist er noch einer von uns - oder einer von denen? Grundfragen stellen sich neu. Wer sind wir, und wer hat die Haare schön? Zum Friseur gehen, während andere noch warten müssen, darf man das überhaupt? Sogar Fußballer fragen sich das inzwischen, nachdem sie dann doch gemerkt haben, dass alle wissen, dass sie nicht mit Friseurinnen verheiratet sind. Das Wort vom Haar-Vordrängler, vom Friseurdrängler macht die Runde, und der Nachbar lässt ungeniert seinen akkurat gestutzten Haarschopf in der Sonne glänzen, während der Rest im Block noch aussieht wie Karl Marx. Nach einem Jahr Corona ist die Solidargemeinschaft endgültig am Ende. Der Kapitalismus zeigt seine Strähnchen. Wann ist endlich Ende März?

© SZ vom 03.03.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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