Spielzeiteröffnung an den Kammerspielen:Auftakt in der Kneipe

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Die Szene von "Im Menschen muss alles herrlich sein" ist inspiriert von der "Bornholmer Hütte" in Berlin. (Foto: Armin Smailovic)

Regisseur Jan Bosse eröffnet die Spielzeit an den Kammerspielen mit einer Geschichte von Müttern und Töchtern, von Ost und West, Emigration und Identitätssuche. Dazu holt er Sasha Marianna Salzmanns Roman "Im Menschen muss alles herrlich sein" auf die Bühne.

Von Yvonne Poppek

"Druck ist immer drauf, auf jeder Premiere", sagt Jan Bosse. Der Regisseur wirkt einige Tage vor der Spielzeiteröffnung an den Kammerspielen trotzdem beschwingt. Es sei etwas Besonderes, den Saisonbeginn übernehmen zu dürfen, "ich mache das gerne". Zumal die Probenbedingungen ideal seien: Auf der Bühne finden abends noch keine Vorstellungen statt, es muss nicht immer auf- und abgebaut werden, es bleibt mehr Zeit für Licht und Ton. "Tolle Bedingungen", schwärmt Bosse. Es klingt also nach Optimismus und Freude auf die Eröffnungspremiere am 30. September, nach den vorhergehenden schwierigen Spielzeiten ist das eine gute Ausgangslage.

Etwas Eröffnungsdruck geht allerdings schon noch raus. Die chilenische Theatergruppe La Re-sentida unter der Leitung von Marco Layera zeigt schon zwei Tage zuvor (Donnerstag, 28. September) in der Therese-Giehse-Halle ihre Produktion "La posibilidad de la ternura / Die Möglichkeit von Zärtlichkeit". Die Uraufführung war gerade auf der Ruhrtriennale zu sehen, das Projekt mit chilenischen Jugendlichen ist eine Koproduktion mit den Kammerspielen, weswegen es nun auch hier gezeigt wird. Das Theaterkollektiv mit seinem dokumentarischem Ansatz ist in München bereits bekannt, mit "Oasis de la impunidad" hatte es das Publikum schon an seine beider Schmerzgrenzen geführt.

In der Therese-Giehse-Halle ist das chilenische Theaterkollektiv La Re-sentida mit "La posibilidad de la ternura / Die Möglichkeit von Zärtlichkeit" zu sehen. (Foto: La Re-sentida)

Die große Premiere im Schauspielhaus gehört aber dennoch Jan Bosse. Für ihn ist es nicht das erste Mal, dass er in der Intendanz von Barbara Mundel eine Spielzeit eröffnet. Sein großes Gesellschaftspanorama "Effingers" nach dem Roman von Gabriele Tergit stand am Beginn der Saison 2021/22. Das Buch hat rund 900 Seiten. Nun, zwei Jahre später, holt er wieder eine Romanadaption auf die Bühne, vom Umfang auf knapp 400 Seiten geschrumpft, aber immer noch ein großes Panorama: Sasha Marianna Salzmanns "Im Menschen muss alles herrlich sein".

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Salzmanns Roman erschien 2021, da standen die russischen Panzer noch kein zweites Mal auf ukrainischem Boden. Die Krim allerdings war schon annektiert, das schwingt bei Salzmann mit. Im Zentrum des Buches stehen vier Frauen, zwei Mütter, zwei Töchter. Die beiden Älteren, Lena und Tatjana, emigrierten nach der Wende aus der Ukraine nach Deutschland, ihre Töchter Nina und Edi wachsen dort auf. Doch von der Geschichte ihrer Vorfahren verstehen die Jüngeren nichts. Zu groß ist das Schweigen über die Wunden, die die Ereignisse der Geschichte geschlagen haben.

Die Autorin, 1985 in Wolgograd geboren, gehört selbst dieser Töchtergeneration an. Für "Im Menschen muss alles herrlich sein" recherchierte sie, führte viele Interviews mit Zeitzeuginnen, die nach Deutschland emigriert waren. Aus den vielen Geschichten entwickelte sie eigenständige Figuren. Im ersten Teil des Buches steht Lena im Zentrum, ihr Aufwachsen noch in der Sowjetzeit, ihr Studium der Medizin, die Wende, ihre lukrative Arbeit als Dermatologin, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, stärker werdende Ressentiments, schließlich ihre Emigration. Im zweiten Teil liegt der Fokus auf Nina und Edi und auf ihren verzweifelten Versuchen, sich selbst, ihre Identität, die Vergangenheit zu verstehen.

Die Bühne hatte eine Berliner Kneipe zum Vorbild

In Nürnberg konnte man in der vergangenen Spielzeit einen kurzen, intensiven Abend sehen mit diesem Stoff. Regisseurin Martina Gredler hatte sich stark auf die Jüngeren konzentriert. In München wird dies nicht der Fall sein. "Ich habe es nicht geschafft, aus dem Roman einen 90-Minüter zu machen", sagt Bosse. Die Inszenierung werde ungefähr doppelt so lange dauern. Bei ihm wird der Fokus auf beiden Generationen liegen. "Es sind Menschen, denen das Koordinatensystem verloren gegangen ist."

Bei ihm werden sich die Figuren in verschiedenen Konstellationen in einer Art Kneipe treffen - dafür gebe es ein reales Vorbild: die "Bornholmer Hütte" in Berlin. Die Geschichte wird aus der heutigen Perspektive erzählt. In der Kneipe wird quasi die Gegenwart verhandelt, Sprünge in die Siebziger- und Neunzigerjahre sind als Erinnerungen eingebunden. Die Produktion arbeite viel mit Realismus, sagt Bosse. Die Zeitsprünge machten das Bühnengeschehen surreal und theatral. Dazu kommt dann noch Live-Musik.

Ein zehnköpfiges Ensemble gehört zu dieser Produktion, die zentralen Frauenfiguren spielen Johanna Eiworth und Wiebke Puls als Mütter, Edith Saldanha und Maren Solty als deren Töchter. Das, was sie zu spielen haben, nennt Bosse "Schauspielermaterial". Salzmann, die vom Theater kommt, habe mit dem Roman Theaterstoff geliefert. Und das ist ebenfalls eine gute Ausgangslage.

Im Menschen muss alles herrlich sein , Premiere: 30. Sept., 20 Uhr, Schauspielhaus; La posibilidad de la ternura / Die Möglichkeit von Zärtlichkeit , München-Premiere: 28. Sept., 19.30 Uhr, Therese-Giehse-Halle, www.muenchner-kammerspiele.de

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