Folgen des Kriegs:Stadtverwaltung im Dauer-Krisenmodus

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Andrea Kapser arbeitet normalerweise im Personalreferat und war zwei Tage abgeordnet für den Einsatz im Ankunftszentrum zur Beratung der Ukraine-Flüchtlinge. (Foto: Robert Haas)

Tausende Menschen aus der Ukraine haben in München Zuflucht gesucht. Die Behörden arbeiten deshalb schon wieder an der Belastungsgrenze - und auch die Pandemie ist noch nicht vorbei. Welche Aufgaben erst einmal warten müssen.

Von Anna Hoben

Normalerweise beschäftigt sich Andrea Kapser im städtischen Personal- und Organisationsreferat mit dem strukturellen Wandel der Arbeit in der Stadtverwaltung. Doch vor Kurzem hat sie für ein paar Tage ihren Schreibtisch mit dem Ankunftszentrum für ukrainische Geflüchtete in Riem getauscht. Dort beriet sie die Ankommenden: Wollen sie bleiben oder in eine andere Unterkunft umziehen? Wo bekommen sie Kleidung? Welcher Bus ist der richtige? Der Einsatz sei eine Bereicherung für sie gewesen, sagt Kapser. Direkt helfen zu können, die Schicksale der Geflüchteten mitzubekommen, Mitarbeiter aus anderen Referaten kennenzulernen. Die 29-Jährige ist eine von vielen hundert Beschäftigten bei der Stadt, die im Zuge der aktuellen Krisen eine Zeit lang völlig andere Aufgaben übernehmen, meist deutlich länger als Kapser mit ihrem zweitägigen Einsatz.

Mehr als 1100 Vollzeitkräfte benötigt die Stadt nach einer aktuellen Schätzung für die Bewältigung der Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine, vor allem im Sozialreferat und im Kreisverwaltungsreferat (KVR) - die Aufgaben reichen von der Betreuung der Geflüchteten nach ihrer Ankunft bis zur Bearbeitung von Anträgen. Das KVR etwa rechnet mit bis zu 24 000 Menschen, denen die Ausländerbehörde eine Aufenthaltserlaubnis erteilen muss; diese brauchen sie, um arbeiten zu können. 700 von den 1100 benötigten Extra-Kräften können die betroffenen Referate durch interne Umstrukturierungen selbst bereitstellen. Bleibt also ein Bedarf von 400 Beschäftigten, die zeitweise aus anderen Referaten abgezogen werden.

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Angesichts dieser gewaltigen Herausforderungen hat Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) vor Kurzem im Personal- und Verwaltungsausschuss einen etwas ungehaltenen Appell an die Stadträtinnen und Stadträte gerichtet. Es gibt in Stadtratssitzungen ein Ritual, das sich mit schöner Regelmäßigkeit wiederholt: der Dank an die Verwaltung, für die Arbeit an den Beschlussvorlagen, für die Umsetzung der politischen Beschlüsse.

Der OB ermahnte nun die Stadträte, sich auch auf andere Weise erkenntlich zu zeigen, nämlich "etwas mehr Geduld" aufzubringen, wenn es um die Bearbeitung von Anträgen und Anfragen geht. Überhaupt könnten sich alle etwas zurücknehmen, fand Reiter - um die Stadtverwaltung zu entlasten: Nicht jedem Vorstoß aus dem Stadtrat sei zu entnehmen, "dass es um Erkenntnisgewinn geht". In der Vollversammlung am Mittwoch will der OB dem Gremium vorschlagen, die Frist für die Bearbeitung von Anträgen von sechs auf neun Monate und für Stadtratsanfragen von sechs auf zwölf Wochen zu verlängern. Gelten soll die Regelung rückwirkend von Januar an, bis Ende dieses Jahres.

"Peiman" nennt sich das Instrument, mit dem die Stadt die Sondereinsätze koordiniert, die Abkürzung steht für "Personaleinsatzmanagement". Es wurde und wird seit der Corona-Pandemie eingesetzt - auch diese Krise ist ja nicht vorbei. Insgesamt mehr als 2800 Beschäftigte haben während der vergangenen zwei Jahre zeitweise ihre Dienststelle verlassen, um für das Gesundheitsreferat Kontakte von Infizierten nachzuverfolgen, an der Service-Hotline der Stadt Auskünfte zu erteilen oder fürs KVR Bußgeldbescheide auszustellen, wenn Bürger gegen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie verstoßen haben. In Hochzeiten waren 1000 Beschäftigte zugleich im Peiman-Corona-Einsatz, etwa 500 sind es zurzeit noch.

Taskforce Peiman

Sylvia Dietmaier-Jebara leitet die Taskforce Peiman, diesen Personal-Verschiebebahnhof. 2021 hat sie selber bei der Corona-Kontaktnachverfolgung für Kitas und Schulen mitgemacht; nun koordiniert sie die Sondereinsätze bei der Stadt. Da nehmen nun Mitarbeiterinnen des Tourismusamts am Hauptbahnhof die Geflüchteten im Empfang und kümmern sich um deren Erstversorgung. Oder eine Beschäftigte, die sonst die Fortbildung in ihrer Dienststelle koordiniert, kümmert sich um die Menschen im Ankunftszentrum in Riem. Die größte Herausforderung, so Dietmaier-Jebara, liege in der Kurzfristigkeit, "selbst bei noch so guter Kalkulation" - weil sich die Lage schnell ändern kann. Man müsse stark auf das Verständnis der Mitarbeiter setzen. Es kommt nämlich schon mal vor, dass jemand am Donnerstag einen Anruf bekommt und am Montag seinen Einsatz beginnt.

Als letztes Mittel wird auch zur Zwangsverpflichtung von Beamten gegriffen. So geschehen mit einigen Dutzend Beschäftigten in jener Woche, in der am Freitag das neue Ankunftszentrum in Riem eröffnet wurde. "Es ging nicht anders", sagt Dietmaier-Jebara, "im Regelmodus war das nicht mehr zu stemmen." Generell gebe es schon auch freiwillige Meldungen, sagt Stephan Westermaier, stellvertretender Personalreferent. Viele trauten sich aber nicht, weil sie ihre eigentlichen Aufgaben nicht vernachlässigen wollten. Dazu kommt, dass der Peiman-Einsatz mitunter bedeutet: Schichtdienst, Wochenendarbeit. Dass man nun schon zwei Jahre Erfahrung damit habe, sei einerseits ein großer Vorteil, sagt Westermaier; aber die Zeit habe auch Spuren in der Belegschaft hinterlassen. "Die Puste lässt nach, die Leute wollen in ihre Dienststellen zurück." Die Aufgaben kämen ja "on top" dazu. "Aber wir müssen diese humanitäre Krise bewältigen. Manches muss dann hintanstehen."

Oberbürgermeister Reiter hat nun die Referate aufgefordert, in den Fachausschüssen mitzuteilen, welche Aufgaben in nächster Zeit warten können. Der Gedanke dahinter: Es ist vielleicht einfacher, ganze Bereiche herunterzufahren, als aus vielen Abteilungen einzelne Mitarbeiter abzuordnen. Letztlich können die Referate aber selbst entscheiden; sie müssen eben eine bestimmte Quote erfüllen. Das Referat für Klima- und Umweltschutz (RKU) etwa muss 23 Personen für den Einsatz melden, etwa zehn Prozent der Beschäftigten. Sie kämen aus "allen Bereichen, da wir uns bemühen, die Lasten einigermaßen zu verteilen", teilt eine Sprecherin mit.

Verzögern sich also die Klimaschutzprojekte der Stadt? Dauert die Umsetzung des Radentscheids künftig noch länger? Lassen Bauprojekte auf sich warten?

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Auf die Frage, wie die Bürgerinnen und Bürger das zu spüren bekommen und welche Projekte sich konkret verzögern könnten, reagieren die Referate nur sehr allgemein. Man sei gezwungen, freiwillige Aufgaben "zurückzustellen oder sogar einzustellen", um die termingebundenen Pflichtaufgaben bewältigen zu können, heißt es aus dem RKU. Aber auch bei solchen dringend erforderlichen Aufgaben sei "mit deutlichen terminlichen Verzögerungen und verminderter Betreuungsintensität zu rechnen".

Eine genaue Analyse der Auswirkungen in den einzelnen Bereichen gebe es nicht, teilt ein Sprecher des Planungsreferats mit, allerdings sei "grundsätzlich mit Qualitätseinbußen und Verfahrensverzögerungen in der Sachbearbeitung zu rechnen". Besonderes Augenmerk liege jedoch "auch weiterhin auf dem Wohnungsbau und den Baugenehmigungsprozessen, und es ist das Ziel, diese bestmöglich aufrecht zu erhalten". Das Mobilitätsreferat versichert, "wichtige und sicherheitsrelevante (Pflicht-)Aufgaben" seien nicht betroffen, Verzögerungen gebe es "bei anderen, meist konzeptionellen, planerischen Aufgaben".

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