Schwabing:Das arme München

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Essensausgabe in St. Silvester: An Orten wie diesen trifft Seelsorger Trischler die Menschen, um die er sich kümmert. (Foto: Florian Peljak)

Jedes Wochenende verteilen 150 freiwillige Helfer im Pfarrsaal von St. Sylvester warme Mahlzeiten an Bedürftige mit wenig Geld. Seit Beginn der Corona-Pandemie hat sich der Bedarf vervierfacht.

Von Benjamin Stolz, Schwabing

Der unauffällige Eingang zum Pfarrsaal der Schwabinger Kirche St. Sylvester wäre leicht zu übersehen, hinge da nicht ein Plakat mit einer Friedenstaube vor einem Regenbogen. Unter diesen Zeichen des Friedens und der Hoffnung, die das Symbol der katholischen Gemeinschaft Sant' Egidio bilden, holen sich jeden Samstag und Sonntag jeweils gut 300 bedürftige Menschen eine kostenlose Mahlzeit, finanziert durch freiwillige Spenden und Zuschüsse der Stadt München. Ursula Kalb, die Leiterin der Münchner Ortsgruppe, organisiert mit insgesamt 150 ehrenamtlichen Helfern diese Tafel mitten in einem der schicksten Bezirke der Stadt: "Hier liegt das Geld auf der Straße", sagt sie. "Es ist aber wichtig, dass man dieses andere München auch kennt."

Die Bewohner dieses anderen Münchens fernab der Bars und Boutiquen rings um die Pfarre sind Mindestrentner, Obdach- und Langzeitarbeitslose, sogenannte Arbeitsmigranten und Leute, die im Leben oft weniger Glück hatten als andere. Als Ursula Kalb die Helfer an diesem Tag zur Teambesprechung zusammentrommelt, herrscht fröhliche Stimmung im Pfarrsaal. An der Wand stehen eine Palette voll grüner Wasserflaschen, Kisten mit frischem Obst und eine Schüssel Müsliriegel. Das zwanzigtausendste Essen soll an diesem Wochenende ausgegeben werden. Bekommen wird es Ernst Schwab, ein langjähriger 'Freund' der Tafel. "Wir sehen die Leute hier als Freunde", erklärt Kalb. "Viele von unseren Besuchern sind es nicht gewohnt, beim Namen genannt zu werden." Kurze Zeit später sind die Aufgaben für den Tag verteilt, und die Gruppe begibt sich, bevor es richtig losgeht, hinauf in die Kirche zur kurzen Andacht.

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Vom Ambo liest Kalb die Passage über das "Pfingstwunder" aus der Apostelgeschichte. Im Text geht es um eine Sprache, die jeder verstehen kann. In der Lesung ist sie der Glaube. Für die Menschen, die sich schon um halbzwölf vor dem Pfarrsaal anstellen, ist diese Sprache eine warme Mahlzeit, eine saubere Toilette und etwas frisches Obst und Wasser für den Nachmittag. Ernst Schwab, der Jubiläumsgast, wartet als erster beim Eingang. "Was gibt's denn heute?", fragt der Mann mit grauem Käppi und etwas zu großer Lederjacke.

Ernst Schwab bekam das 20 000. Essen. (Foto: Florian Peljak)

Schwab hat zwar ein Dach über dem Kopf, aber nur eine bescheidene Rente. Als er um zwölf endlich die Treppe runter in den Pfarrsaal gehen darf, gibt es Applaus, Fotos, einen Blumenstrauß und eine große Portion Rinderbraten mit Knödel und Kraut. Einer der Fotografen ist Andreas Heiss, der Ehemann von Ursula Kalb. Er ist Arzt und kümmert sich gelegentlich um medizinische Anliegen der Freunde von Sant' Egidio. "Wir haben einigen Leuten geholfen, sie in den Impfzentren anzumelden", sagt er. Ein paar habe er in seiner Praxis selbst geimpft. Zusätzlich zum Essen bekommen die Leute frische FFP2-Masken. "Ein sauberer Mundschutz ist auch ein Zeichen von Würde", findet Heiss.

Vor den Toiletten steht Sonia. Die Italienerin arbeitet unter der Woche in der Rechtsberatung eines Unternehmens. Als sie an Weihnachten nicht in ihre Heimat fahren konnte, wollte sie "etwas Sinnvolles machen". Und ist geblieben. Eine gläubige Katholikin ist Sonia nicht: "Um Gutes zu tun, braucht man nicht katholisch zu sein."

Manche der Gäste setzen sich mit ihrem Essen gleich nach draußen auf die Stufen der Kirche. Ursula Kalb streift an den Wartenden vorbei, kontrolliert Abstände, hat ein Ohr für viele und einzelne. "Die Kirche vergisst die Armen", findet sie. "Wir wollen in der Kirche sein, um sie zu verändern". Die Leute, die bei Sant' Egidio Essen holen oder sich engagieren, müssen nicht Christen sein. "Es geht einfach um ein Zugehörigkeitsgefühl", sagt Ursula Kalb. Kurz vor der Pandemie hat die Gemeinschaft begonnen, Ausweise für die Tafel-Besucher auszuteilen. 560 Gäste sind mittlerweile erfasst. Kalb und ihr Team gratulieren zum Geburtstag und rufen an, wenn sie die Mitglieder längere Zeit nicht gesehen haben.

"Wir sehen die Leute als Freunde": Organisatorin Ursula Kalb. (Foto: Fotos: Florian Peljak)

Novka zeigt ihren Ausweis gerne her. Die 75-jährige Rentnerin trägt für den Anlass einen roten Mantel, eine rote Maske und hat die Fingernägel ebenfalls rot lackiert. "Zurzeit bedeutet jeder Tag nur essen und schlafen", seufzt sie. Novka stammt aus Serbien. Mit 22 kam sie ganz alleine nach Deutschland und hat hier bis zu ihrer Pensionierung als Reinigungskraft gearbeitet. Auch sie hat nur eine geringe Rente und freut sich jedes Wochenende auf ein Essen und ein paar Gespräche. Unweit von Novka steht Peter mit seinem Flaschenwagen. Er kommt eigentlich aus Ostdeutschland und hat sich, wie er erzählt, durch die teure Krebsbehandlung einer Freundin verschuldet. "Wegen Corona und der Kontaktbeschränkungen konnte ich den Winter gerade so überleben", sagt er. Peter muss mit 500 Euro monatlich auskommen und verdient sein Geld hauptsächlich mit Flaschensammeln.

An diesem Tag hat die Gemeinschaft 320 von einer Tölzer Metzgerei zubereitete Mahlzeiten in hellblaue wiederverwendbare Tüten gepackt. Vor Corona kam man noch mit etwas mehr als 80 aus. "Der Bedarf an solchen Einrichtungen ist nicht gedeckt", sagt Ursula Kalb. Viele Leute, die hierherkommen, seien außerdem erst seit Kurzem arm. "Wir müssen anders weitermachen", warnt Kalb. "Wir müssen jetzt auf die Verlierer der Pandemie achten."

© SZ vom 25.05.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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