Kritik:Jammen statt Jammern

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Starke Frauen: "Die Unerhörten" mit Franziska Hackl, Evelyne Gugolz, Nicola Kirsch Katja Jung, Lisa Stiegler und Pia Händler (von links) im Marstall. (Foto: Sandra Then)

Elsa-Sophie Jach inszeniert mit "Die Unerhörten" antike Heldinnen als starke Frauen und setzt auf die Energie der Techno-Band "Slatec" - zu Recht.

Von Yvonne Poppek

Das Publikum tanzt. Unter ihnen vibriert der Boden in den Rängen, vor ihnen toben sechs Schauspielerinnen zwischen rosafarbenen Polstern. In den vier Ecken der Bühne, auf ebenfalls rosafarbenen Podesten, läuft derweil der Motor dieser Inszenierung im Marstall: die Techno-Band Slatec. Ihr energiegeladener Sound vitalisiert die Zuschauer wie Brausepulver stilles Wasser. Roman Sladek treibt mit seiner Posaune voran, Marco Dufner (Schlagzeug), Samuel Wootton (Percussion) und Georg Stirnweiß (Synth) wirbeln dazu, Genres mischen sich, Techno trifft Dancefloor oder auch Chanson. Es fühlt sich absolut natürlich an, dass es am Ende der Premiere von "Die Unerhörten" eine Zugabe gibt, das Publikum in den Reihen steht, tanzt. Und das nicht zum ersten Mal an diesem Abend.

Wer hätte das gedacht? Seit Freitag ist klar, dass verschärfte Corona-Maßnahmen kommen, der Kultur-Lockdown ist bedrohlich nahe. Die Stimmung an den Häusern ist, vorsichtig formuliert, gedrückt. Und dann gibt es im Marstall einen Abend, der mit "Die Unerhörten. Technoide Liebesbriefe für Antike Heldinnen" überschrieben ist. Klingt alles nicht nach Party. Tja.

Ein energiegeladener Abend, technoid, musikalisch, weiblich

Elsa-Sophie Jach hat diesen Abend erdacht. Am Marstall hat sie bereits ihre Arbeit "Herz aus Glas" nach dem gleichnamigen Drehbuch von Herbert Achternbusch realisiert. Nun nimmt sie sich die Antike vor: die Liebeslieder von Sappho, die Dichtungen um Echo, Medea, Kassandra, Medusa, Philomela und Penelope. Jach hat mit Dramaturgin Stefanie Hackl Texte von Sappho, Aischylos, Ovid, Christa Wolf, Enis Maci und einigen anderen zusammengespannt. Im Kern geht es nun darum: Wer Geschichte schreibt, bestimmt die Geschichte. Die Stimmen der Frauen sind vielfach daraus getilgt. Die Rolle der Frau ist die einer Unerhörten.

Doch im Marstall sollen diese Grundgedanken keinesfalls zum großen Jammern führen. Hier geht es um Empowerment, vom ersten Moment an. So ist schon der erste Auftritt der sechs Schauspielerinnen eine selbstbewusste Eroberung des Raumes. Slatec gibt die Energie vor, die Evelyne Gugolz, Franziska Hackl, Pia Händler, Katja Jung, Nicola Kirsch und Lisa Stiegler spielend aufnehmen und vergrößern. Starke Frauen sind sie, die sich der Geschichte nun selbst bemächtigen werden.

Eine nach der anderen schlüpft in die Rolle einer antiken Figur, deutet um, bekrittelt die althergebrachten Erzählungen. "Die Ereignisse der Menschheitsgeschichte, die Sagen und die Vorfälle, sie offenbaren sich bei genauerer Betrachtung als ebenso ungenau wie kreisförmig", heißt es einmal. Diesen Eindruck verstärken sie mit jedem neuen Abschnitt, ebenso wie den von einem durch Gewalt aufrecht erhaltenen patriarchalen System. Jach verknüpft das antike Gemetzel noch mit einem Ereignis der Gegenwart, dem Fall der Türkin Nevin Yildirim, die ihren Vergewaltiger getötet hat, deren Verurteilung jedoch landesweite Proteste auslöste. Es ist erschöpfend viel Stoff, der da zusammenkommt, ein Festmahl für Freaks der Textexegese, vor allem aber ein energiegeladener Abend, technoid, musikalisch, weiblich.

Die Unerhörten, Residenztheater,

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