Diversity, Gleichberechtigung, Diskriminierung:"Hey, ihr seid nicht allein!"

Lesezeit: 4 min

"Wenn ich was bewegen möchte, dann muss ich die Realität abbilden", sagt Aylin Rauh. (Foto: privat)

Aylin Rauh, 23, muss seit ihrer Kindheit rassistische Bemerkungen ertragen. Jetzt schreibt sie Bücher, um andere Menschen, die sonst vielleicht untergehen, sichtbar zu machen.

Von Luca Lang

Ein Dorf irgendwo in Bayern. Aylin Rauh arbeitete in einem Steakhaus. Wie sie es sonst mit ihrem Vater gewohnt ist, spricht sie mit den Gästen dort bairisch. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Trotzdem wird die heute 23-Jährige an jenem Arbeitstag ausgelacht. "Ich habe aufgrund von deinem Aussehen nicht erwartet, dass du bairisch sprichst", hat die Frau zu Aylin gesagt, erzählt sie.

Aylin kann einige solcher Geschichten erzählen. Von rassistischen Bemerkungen an der Bushaltestelle auf dem Weg zur Schule, von Sätzen wie "Raus aus Deutschland, du Ausländerweib" in der Großstadt. Es sind Erfahrungen, die für rassifizierte Menschen hierzulande immer noch zum Alltag gehören. Situationen, die gerade für junge Menschen besonders schwer zu verarbeiten sind. Aylin erinnert sich an einen der ersten dieser Vorfälle: "Für mich ist da eine Welt zusammengebrochen", sagt sie.

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Heute wie damals bringt Aylin diese Erfahrungen zu Papier. Der Unterschied: In ihrer Jugend schrieb sie nur für sich, seit einiger Zeit allerdings so, dass ihre Gedanken und ihre Erfahrungen für alle zugänglich sind. Dieses Jahr soll schon ihr drittes Buch erscheinen.

Aylin ist nicht in Bayern geboren - "in Bayern sagt man, Zuagroaste", wie sie schmunzelnd anmerkt. Aus Nordrhein-Westfalen kam sie im Alter von knapp drei Jahren mit ihrer Mutter in das "relativ konservative und altbackene" Bundesland. Lange hat sich die junge Autorin hier nicht zugehörig gefühlt, erzählt sie im Gespräch per Videocall mit leicht verschnupfter Nase. Aylins dunkle, lange Locken, die sie gerne offen trägt, verdecken fast den gesamten Hintergrund der rechteckigen Kachel auf dem Bildschirm. Erlebnisse wie das Ereignis in dem Steakhause haben der jungen Frau mit türkisch-indischen Wurzeln immer wieder das Gefühl gegeben, nicht willkommen zu sein. Auch zu Teilen der türkischen Community fand Aylin keinen Anschluss. "In die türkisches Kultur passe ich auch irgendwie nicht rein. Ich bin sehr modern und offen erzogen worden. Für manche war das zu offen", sagt sie.

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Heute ist das anders. Heute ist Aylin stolz auf die Person, die sie ist. Auf die Kulturen, mit denen sie aufgewachsen ist. Auf ihre Mutter, die ihr die türkische Sprache beibrachte. Auf das Bairisch-Sprechen mit ihrem Vater. "Ich bin wahnsinnig dankbar für meine Wurzeln", schreibt Aylin in ihrem zweiten Buch "Es ist mehr als ein Gedankenchaos", das im Herbst vergangenen Jahres erschien und mit einem einleitenden "Servus" beginnt. Dabei, dass ihr klar wurde, sich nicht für eine Seite entscheiden zu müssen, half ihr auch das Schreiben.

Begonnen hat sie damit in Tagebüchern, in denen Aylin ihr Innenleben auf das Papier brachte. Zu schreiben, das habe ihr schon immer geholfen, ihre Gefühlswelt zu fassen. Manchmal sei es auch therapeutisch, sich an den Tisch zu setzen und Gedanken aufzuschreiben. Während der Schulzeit kam sie dann über einen Lehrer mit Poetry Slams in Berührung und war 2018 dann bei den bayerischen Meisterschaften. "Aufgrund der Tatsache, dass man wirklich so kurze Texte schreibt für einen Poetry Slam, war das ein Grundstein für die Art, wie ich meine Bücher schreibe", sagt sie.

Aktiv ist Aylin nicht mehr auf Slams zu finden. Mit dem Journalismusstudium nach der Schule und zwischen dem Schreiben von Büchern und ihrem Volontariat bei einer Münchner Nachrichtenagentur im Unterhaltungsbereich blieb zu wenig Zeit.

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Die Entscheidung, nicht mehr nur Erlebtes zu verarbeiten, sondern mit der Welt zu teilen, traf Aylin auch, um anderen Menschen Orientierung zu bieten und Mut zu machen. Indem Aylin ihre Erfahrungen teilt, möchte sie anderen Menschen zeigen: "Hey, ihr seid nicht allein!" Früher, erzählt sie, hätte es "auf jeden Fall geholfen, wenn ich eine Person gehabt hätte, bei der ich weiß, ihr ist so was ähnliches auch passiert". Diese Person will Aylin nun für andere sein. Ihr geht es darum, "andere Menschen, die sonst vielleicht untergehen, sichtbar zu machen". Die Realität aus ihrer Perspektive darzustellen. Denn: "Wenn ich was bewegen möchte, dann muss ich die Realität abbilden", sagt Aylin.

Die Texte, die Kurzgeschichten und Gedichte in ihren Büchern gehen aber doch über Aylins eigene Erfahrungen heraus. Das, was sie als Mensch mitnimmt, bezieht sie auf gesamtgesellschaftliche Kontexte. "Ich habe aber früh gemerkt, dass ich das nicht nur auf meine Gefühlswelt beziehen kann", sagt sie. "Diversity, Gleichberechtigung, Diskriminierung" - Themen, die gerade Aylins Generation beschäftigen, findet sie. Sie treffe da einen Nerv.

Die großen Themen also. Manchmal vielleicht noch zu groß. Im Gespräch fällt dann gerne mal der Name J.K. Rowling unter der Kategorie Idol, wo es doch einige Minuten vorher noch um "Diversity" ging. Ohne zu reflektieren, dass die Autorin der Harry Potter Reihe in letzter Zeit eher durch transphobe Äußerungen auffällt als durch ihr literarisches Schaffen. Aber Aylin ist bereit dazuzulernen. "Ich rede sehr viel mit Leuten. Da beginnt man dann auch über gewisse Themen nachzudenken und sich ein Bewusstsein zu schaffen", sagt sie.

Aylins Ziel sind konstruktive Diskussionen, die an ihre Texte anknüpfen können

Überhaupt: von Festgefahrenheit kaum eine Spur. Nichts von dem, was Aylin schreibt, was sie sagt, stellt sie als unumstößlich dar. "Ich finde", "ich glaube", "ich denke", scheinen sowieso Aylins Lieblingssatzanfänge zu sein. Sowohl in ihrem jüngsten Buch als auch, wenn sie spricht. Damit stellt sich Aylin auch dem sonst in 280 Zeichen artikulierten Wahrheitsanspruch entgegen. Aylins Ziel sind konstruktive Diskussionen, die an ihre Texte anknüpfen können, abseits der schnelllebigen Debatten in den sozialen Medien. Sie ist sicherlich nicht die Erste, die das erreichen möchte. Aylins Bücher sind auch sicherlich nicht die einzigen Felsen in der Brandung der Informationsflut. Sie ist aber wohl einer der wenigen jungen Menschen, die mit Anfang zwanzig schon an ihrem dritten Buch schreiben.

Aylin möchte "anderen Menschen den Spiegel vorhalten"

Trotzdem bleibt ihr zweites Buch mit 50 Kapiteln auf knapp 130 Seiten ein schnelllebiger Einblick in die Gedanken einer jungen Frau. Vielleicht liegt es daran, dass sie sich an den Gewohnheiten ihres Publikums orientieren wollte, vielleicht daran, dass die ersten Texte, die Aylin schrieb, ebenfalls kurz waren.

"[O]b das irgendwann mal weggeht?" fragt Aylin am Ende eines Gedichts in ihrer letzten Veröffentlichung. "An die Vollidioten der Woche" heißt es, an zwei Fußballfans, die sich anlässlich eines verlorenen Spiels ihrer Lieblingsmannschaft rassistisch äußern. Aylin möchte "anderen Menschen den Spiegel vorhalten", sagt sie. "Hey, das passiert aktuell. Überleg doch mal, ob dein Verhalten dazu beiträgt, dass alles richtig läuft." Damit das irgendwann mal weggeht.

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