Landgericht München:Was im Neuperlacher Gebüsch geschah, lässt sich "nicht mit Sicherheit" klären

Lesezeit: 3 Min.

Das Amtsgericht München untersagte, dass der Nachbar eine Kamera aufstellt, die das Grundstück nebenan erfasst. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

Das Gericht hat Zweifel, ob ein damals 21-Jähriger eine 70-Jährige vergewaltigt hat oder ob es doch einvernehmlicher "Quick-Sex" gegen Geld war. Der Mann wird von diesem Vorwurf freigesprochen - und gleich nach dem Urteil erneut abgeführt.

Von Susi Wimmer

Nicht ein Drehbuchautor schreibt die unglaublichsten Geschichten, sondern das Leben. Oder, wie Richter Christian Daimer sagen würde: "Es gibt vor Gericht nichts, was es nicht gibt." So hatte die 9. Strafkammer am Landgericht München I darüber zu befinden, ob es tatsächlich so war, dass ein 21-Jähriger nach seinen Angaben mit einer 70 Jahre alten Prostituierten in einer kühlen Oktobernacht 2021 Geschlechtsverkehr in einem Gebüsch hatte - oder ob Joseph K. laut Staatsanwaltschaft die Frau schlichtweg verfolgt und vergewaltigt hatte. Am Ende sprach das Gericht den Angeklagten vom Vorwurf der Vergewaltigung frei.

Was in jener Nacht geschah, habe man "nicht mit Sicherheit" klären können, beide Beteiligten hätten gelogen. "Wer Zweifel hat, darf nicht verurteilen." Lange konnte sich Joseph K. über seine wiedergewonnene Freiheit allerdings nicht freuen. Denn gleich nach dem Urteil verkündete die Staatsanwältin, es liege ein Haftbefehl der Ausländerbehörde gegen ihn vor.

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Der aus Sierra Leone stammende Joseph K. war angeklagt wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Raub und Körperverletzung. Am Ende blieb eine Verurteilung zu einer Geldstrafe wegen Diebstahls übrig. Außerdem muss der Staat den heute 23-Jährigen für die erlittene Untersuchungshaft entschädigen. "Der Prozess hat mich sehr beschäftigt", räumt selbst der Vorsitzende Richter ein. Und das Ganze habe ihn auch erschreckt: "Denn ohne die Videos aus den öffentlichen Verkehrsmitteln hätten wir den Angeklagten mit ziemlicher Sicherheit verurteilt."

Angeklagter will angeblich massenhaft Alkohol und Drogen konsumiert haben

Die Geschichte, die Joseph K. erzählte, klang wirklich unglaubhaft: zuerst ein Alkoholkonsum von neun Bier, eineinhalb Flaschen Wodka, dazu acht Joints und zwei Ecstasy-Tabletten. "Da müssten sie schon bei den Engelchen sein", hatte Richter Daimer kommentiert. Dann, so K., habe ihn gegen 3 Uhr nachts vor einem Stundenhotel am Hauptbahnhof diese Frau angesprochen, ob er Lust auf Sex habe. Er habe ihr 150 Euro gegeben. Sie sagte, sie nehme ihn mit nach Hause. Also stieg man in die S-Bahn, später in den Nachtbus. Sein sexuelles Interesse sei in der erleuchteten S-Bahn erloschen, sie habe darauf gedrängt, dass er mitkäme. In Neuperlach habe sie "Quick-Sex" in einem Gebüsch vorgeschlagen, er habe dafür 100 Euro zurückgefordert. Deshalb habe sie nach dem Geschlechtsverkehr "Hilfe Polizei" gerufen, er habe ihren Geldbeutel genommen und sei verschwunden.

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit sagte die Frau in der Verhandlung aus, Joseph K. habe sie am Hauptbahnhof angesprochen, in der Bahn und im Bus belästigt und begrapscht, und als sie aus dem Bus ausstieg, sei er ihr gefolgt und habe sie vergewaltigt. Zugleich habe er an ihrer Handtasche gezerrt, bis der Riemen riss, dann sei er geflüchtet.

Videos aus Bus und Bahn zeigten keine Belästigung

Fakt ist, dass die Polizei bei Joseph K. Schmuck aus dem Geldbeutel der Frau fand. Und, dass seine DNA-Spuren an ihrer Unterwäsche gesichert wurden. Tatsache sei aber laut Gericht auch, dass am Tatort keinerlei Kampfspuren entdeckt wurden, und dass das Opfer nicht die Polizei rief, sondern Nachbarn. Die Frau habe lediglich einen Raub angezeigt und erst nach zwei Wochen bei der Polizei von einer Vergewaltigung berichtet. "Wir haben keine Arztberichte zu möglichen Verletzungen, und sie hat auch mit niemandem darüber gesprochen", sagt Daimer. Auch die Frage, warum sie sich um 3 Uhr früh am Hauptbahnhof aufhielt, sei nicht eindeutig zu klären gewesen. "Aber all das", so die Kammer, würde noch gar nichts beweisen, "trotzdem hätte eine Vergewaltigung möglich sein können".

Allerdings hätten die Videos aus Bus und Bahn eine andere Sprache gesprochen: Dort sei nämlich keine Belästigung von seiner Seite zu sehen, sondern eher, dass sie auf ihn einrede und sich sogar beim Aussteigen aus dem Bus an seinem Arm festgehalten habe. "Sie hat uns angelogen", meint Daimer. Und bei ihren Aussagen zur mutmaßlichen Vergewaltigung sei keine Konstanz mehr erkennbar gewesen. Daimer kritisierte auch die Arbeit der Polizei, die eine ermittlungsrichterliche Vernehmung der Frau versäumte - und auch die Videos aus den Verkehrsmitteln nicht sichtete.

"Er hat sich diese Version der Geschichte ausgedacht, nachdem er die Akten gelesen hatte", ist sich die Nebenklage-Anwältin Claudia Wüllrich nach dem Urteil sicher. Ihre Mandantin sei sehr mitgenommen gewesen, habe erst später Vertrauen zu einem Polizisten gefasst und ihre Geschichte erzählt. "Sie ist eine ehrbare Frau, die Diffamierungen seitens des Angeklagten sind unerträglich."

Joseph K. nahm das Urteil noch im Gerichtssaal an, die Staatsanwaltschaft äußerte sich nicht zu einer möglichen Revision. Dafür aber zu einem Haftbefehl der Ausländerbehörde. Bereits im Verfahren war zur Sprache gekommen, dass alle Asylanträge von K. negativ beschieden wurden. Er wurde wieder abgeführt.

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