Prozess in München:Von dem Angeklagten geht "eine große Gefahr aus"

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Der Angeklagte mit seinem Anwalt Ömer Sahinci beim Auftakt des Prozesses im Gerichtssaal des Landgerichts München. (Foto: Peter Kneffel/dpa)

Mit 23 Axtschlägen ermordet ein 20-Jähriger seine Mutter. Die Jugendstrafkammer verurteilt ihn zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und Unterbringung in der Psychiatrie - danach soll über eine Sicherungsverwahrung entschieden werden.

Von Susi Wimmer

"Es hätte jeden treffen können", sagt Richter Stephan Kirchinger, jeden, den Marcel L. (Name geändert) in seine verzerrte Gedankenwelt einbezog. Im Januar 2023 traf es seine Mutter, auf die der heute 21-Jährige "mit absolutem Vernichtungswillen" mit der Axt 23 Mal einschlug. Die 1. Jugendstrafkammer des Landgerichts München I verurteilte Marcel L. nun wegen Mordes zu einer Jugendstrafe von acht Jahren und ordnete die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Von dem jungen Mann gehe "eine große Gefahr aus", erklärte Kirchinger. Deshalb wird die Große Jugendkammer nach Ablauf der Zeit entscheiden, ob auch eine Sicherungsverwahrung infrage kommt.

Es sei ein "beispielloses Verbrechen" gewesen, sagte der erfahrene Jugendrichter in der Urteilsbegründung, und ein "unglaublich brutales Vorgehen". Aus Angst, dass seine körperliche Kraft nicht ausreichen würde, hatte Marcel L. im Wohnzimmer des Familienheims in Planegg von hinten immer wieder auf Gesicht und Kopf seiner Mutter eingehackt. Dabei habe er sie, "man muss es leider so sagen", an den falschen Stellen getroffen. Die Frau lebte noch zwei Stunden lang und starb laut Rechtsmediziner Oliver Peschel an Blutverlust und dem Einatmen von Blut in die Lunge. Aber wie konnte es so weit kommen?

Am ersten Verhandlungstag schilderte Marcel L. seine Vita äußerst eloquent und alles andere als wirr. Nach Abschluss der Schule hatte er im Jahr 2020 eine Ausbildung zum Steuerfachangestellten begonnen. Dies sei ihm aber zu anstrengend gewesen, acht Stunden arbeiten, "da blieb zu wenig Zeit für mich". Er schmiss die Lehre und gammelte daheim in seinem Kinderzimmer herum: Computerspiele, kinderpornografische Bilder, ein Leben im Schlafanzug, die Welt auf wenige Quadratmeter Kinderzimmer beschränkt.

Seinen Eltern log er vor, er habe aufgrund von Depressionen eine Krankschreibung oder er bemühe sich beim Jobcenter um Arbeit. Die Eltern bezogen für ihn Kindergeld, und als die Familienkasse mangels Nachweisen eine Rückzahlung forderte, drohte das Lügengebilde von L. einzustürzen. Er packte das Beil, das neben seinem Bett lagerte, und ging ins Wohnzimmer, wo seine Mutter auf dem Boden saß und für den anstehenden Umzug der Familie packte.

In dem Brief der Familienkasse sah die Kammer "den letzten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte", aber nicht das ausschlaggebende Motiv. Bei der Suche nach den Beweggründen habe man versucht, sich auf die teils bizarren Gedankengänge des Angeklagten einzulassen. Marcel L. habe vorgehabt, sich selbst zu töten, "weil er mit sich und dem Verhältnis beziehungsweise Nicht-Verhältnis zu anderen Menschen" nicht klargekommen sei. Den laufenden Umzug habe er ignoriert, sein Zimmer sei "seine letzte Zuflucht" gewesen. Die drohte er zu verlieren.

Er übte für den Ernstfall

Das zweite Motivbündel sah die Kammer in der psychischen Erkrankung des jungen Mannes. Er wollte, bevor er aus dem Leben schied, "ein Verbrechen begehen, sehen, wie es ist, einen Menschen zu töten". Ausgesucht hatte er sich seine Eltern, mit denen er nach eigenen Aussagen gut zurechtkam. Sie wollte er töten und dann sich selbst, "damit sie nicht traurig sind über meinen Tod". Und er übte für den Ernstfall: Jeden Freitagabend, so Kirchinger, stellte sich Marcel L. mit dem Beil vor dem Zimmer der Eltern auf. Einmal schlich er sogar zu seinem schlafenden Vater, die Waffe in der Hand. "Und er überlegte, ob er es jetzt machen solle oder nicht."

Der psychiatrische Sachverständige Franz Joseph Freisleder hatte dem 21-Jährigen eine kombinierte Persönlichkeitsentwicklungsstörung attestiert. Im Vordergrund stehe eine schizoide Akzentuierung, die auch das merkwürdig emotions- und empathielose Verhalten des Angeklagten erkläre. Wenn sich die Situation wieder so wie damals darstellen würde, hatte Marcel L. gesagt, dann würde er es wieder tun.

Wie Freisleder sah auch die Jugendkammer eine "erheblich eingeschränkte Steuerungsfähigkeit" bei L. Allerdings sei seine Einsichtsfähigkeit nicht beeinträchtigt, "er weiß, dass man seine Mutter nicht mit dem Beil erschlagen darf". L. verkenne auch nicht die Realität, er nehme sie eher verzerrt wahr. Beim Mordmerkmal der Heimtücke folgte die Kammer dem Antrag von Staatsanwältin Johanna Heidrich. Allerdings sah sie keine niedrigen Beweggründe.

Marcel L., ein unscheinbarer junger Mann mit langem Haarzopf, wirkte bei der Urteilsverkündung wie immer während des Prozesses reglos. Nur als Kirchinger ihn direkt ansprach, hob er den Kopf. "Er hat bis heute nicht begriffen, was er angerichtet hat", sagte der Vorsitzende Richter, und er weigere sich, sich mit seinem Gewaltpotenzial auseinanderzusetzen. In seinem Zustand könne man von ihm "alles erwarten".

Wie sich Ls. Störung entwickeln wird, "ist völlig offen". Sie könne in eine Schizophrenie münden oder sich zurückbilden. Tritt Letzteres ein, müsse man sich mit seiner Gefährlichkeit auseinandersetzen, "da darf man als Gericht kein Risiko eingehen". Deshalb werde die Kammer am Ende der psychiatrischen Behandlung über eine Sicherungsverwahrung entscheiden.

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