Schockanrufe:Je emotionaler die Masche, desto erfolgreicher der Betrug

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Im Visier der Betrüger: Senioren wie Hubert Gärtner und eine Frau, die ihren Namen lieber nicht lesen mag - nicht, dass noch einer anruft. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Die Zahl der sogenannten Schockanrufe bei alten Menschen nimmt drastisch zu. Nachdem der klassische Enkeltrick kaum noch funktioniert, setzen die Kriminellen nun auf neue Lügengeschichten.

Von Joachim Mölter

Es war ein herzerweichendes Jammern und Wimmern, das die alte Frau hörte, als sie das Telefon abhob. "Oma, Oma", schluchzte eine weibliche Person in ihr Ohr. "Oma, ich hab' einen Unfall gehabt", schluchz! "Dabei hat eine schwangere Frau ihr Kind verloren. Und jetzt soll ich ins Gefängnis", schnief! Dann flehte die Stimme: "Oma, hast du 80 000 Euro?" Die bräuchte sie nämlich als Kaution, um auf freien Fuß zu kommen.

So viel Geld hatte die alte Dame natürlich nicht, aber was sie hatte, holte sie von der Bank, 15 000 Euro. Die steckte sie in einen Karton und übergab sie einem Mann, den ihr ein angeblicher Staatsanwalt als Kurier vorbeigeschickt hatte. Der angebliche Staatsanwalt hatte das Gespräch recht bald von der vermeintlichen Enkelin übernommen und die alte Frau genau instruiert, was sie zu tun habe.

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Erst später dämmerte ihr, dass sie einer Betrugsmasche aufgesessen war, die derzeit die Münchner Kriminalpolizei schwer beschäftigt: Schockanrufe. Bei denen werden vor allem ältere Menschen am Telefon überrumpelt mit Geschichten von Angehörigen, die tödliche Unfälle verursacht hätten und nun einen großen Geldbetrag hinterlegen sollten, um nicht ins Gefängnis zu müssen. "Die Fallzahlen gehen deutlich nach oben", sagt Hans-Peter Chloupek, der Leiter der Arbeitsgemeinschaft (AG) Phänomene, die sich mit betrügerischen Telefonanrufen beschäftigt.

Allein seit Anfang November habe seine Abteilung neun erfolgreiche Schockanrufe registriert - mehr als im ganzen Jahr 2021. Die Beute betrug in einem Fall rund eine halbe Million Euro, insgesamt waren es mehr als eine Million. Erst in dieser Woche hätten seine Kollegen die Übergabe von 220 000 Euro vereitelt - mehr, als im gesamten Vorjahr mit dieser Masche in München erbeutet worden ist.

Angesichts dieser Entwicklung hat das Polizeipräsidium eine Präventionskampagne gestartet. In einem Video schildert ein Opfer, Hubert Gärtner, wie er von den Kriminellen angerufen worden ist, welche Geschichte ihm aufgetischt wurde, welche Anweisungen er bekommen hat. Unterlegt wird das Ganze von einem Original-Mitschnitt des Gesprächs, das die Polizei heimlich mithörte und aufzeichnete. In dem wird auch die geschickte, manipulative Gesprächsführung der Gauner deutlich.

Bei Gärtner hatte zu Beginn angeblich die Tochter ins Festnetz-Telefon geschluchzt, weil er aber gar keine Tochter hat, fiel er auf den Trick nicht rein und verständigte unbemerkt mit seinem Handy die Polizei. So half er mit, dass der Geldabholer später festgenommen wurde. 40 solcher Abholer sitzen aktuell in Haft, berichtete der Oberstaatsanwalt Kai Gräber.

An die Hintermänner heranzukommen ist schwieriger, aber die AG Phänomene ist ihnen zumindest auf der Spur. "Die Haupttäter gehören zu einem deutsch-polnischen Familienclan, der früher auf den Enkeltrick spezialisiert war", berichtete Chloupek. Weil der zuletzt nicht mehr so gut funktionierte, hat der Clan seine Erzählung derart dramatisiert, dass große Ängste um engste Angehörige geschürt werden. Und auf dieser emotionalen Schiene läuft das Betrugsgeschäft offensichtlich besser als je zuvor.

Bei der Präsentation der Präventionskampagne am Donnerstag erzählte die eingangs erwähnte Frau, sie habe über die bisherigen Tricks von Telefonbetrügern Bescheid gewusst, über falsche Polizeibeamte, falsche Enkel, falsche Gewinnversprechen. Immer habe sie da gleich aufgelegt. Aber "von dem Weinen hatte ich noch nicht gehört", sagt sie, "dadurch bin ich reingefallen. Es war nur dieses Weinen."

Die 86-Jährige mag ihren Namen lieber nicht in der Zeitung lesen. Sich als Opfer dieser Betrüger zu erkennen zu geben, erfordert Mut und Stärke. Mit dem Thema befasste Polizisten berichten, dass der psychische Schaden manchmal größer ist als der finanzielle - viele Ältere verlören auch ihr Selbstvertrauen und bauten geistig ab.

Das kann man von der 86-Jährigen nicht behaupten, sie ist immer noch sehr rege und reflektiert. Später sind ihr Widersprüche in der Erzählung des Anrufers bewusst geworden, aber zum Vorgehen der Täter gehört es ja, ihre Opfer die ganze Zeit über zu beschäftigen, sie permanent etwas zu fragen, damit sie gar nicht mehr zum Nachdenken kommen. "In dem Moment habe ich nur noch gemacht, was der angebliche Staatsanwalt mir gesagt hat", bestätigt die Frau. "Da reagierst du einfach nicht mehr, du denkst nur noch an deine Enkelin."

Hubert Gärtner weiß, bei welchem Signal man betrügerische Absichten am Telefon spätestens erkennen sollte: "Die echte Polizei würde nie Geld verlangen, wenn eine Person einen Unfall hatte." Seine Empfehlung: sofort auflegen!

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