München/Neubiberg:Umarmung von der App

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Merle Fairhurst untersucht, wie sich Berührungsdefizite auswirken

Von Daniela Bode, München/Neubiberg

Was unter normalen Umständen selbstverständlich ist, geht wegen der Corona-Krise schon lange nicht mehr. Der letzte Händedruck, die Umarmung der Oma - solche Berührungen, die wir als angenehm empfinden, liegen bei den meisten nun Wochen zurück. Wie wirken sich der Mangel an Berührungen und die Selbstisolation auf das mentale, psychologische und emotionale Wohlbefinden aus? Dieser Frage geht Merle Fairhurst, Professorin für Biologische Psychologie an der Universität der Bundeswehr in Neubiberg, in Zusammenarbeit mit der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München und der Liverpooler John Moores University nach.

Hintergrund der Studie ist das affektive Berührungssystem. Das bedeutet, dass durch eine Berührung das Belohnungssystem im Gehirn angekurbelt wird. Die Berührung, wie etwa das Streicheln des Kindes - all das hilft, sich selbst zu regulieren und Stress abzubauen. "Das ist besonders wichtig in Situationen von hohem Stress" wie der jetzigen Krise mit finanziellen Sorgen und Ängsten um Familienmitglieder, sagt Fairhurst. Umso kniffliger, dass Körperkontakt momentan nicht wie normalerweise möglich ist.

Für die Wissenschaftler sei es eine "spannende empirische Situation", sagt die Professorin. Es gibt Menschen, die mehr kuscheln werden, etwa Familien mit Kindern. Andere werden weniger Berührungserfahrungen haben, etwa Menschen, die allein leben. An der Online-Umfrage, die Teil der Studie ist, haben bisher 1600 Probanden in fünf Sprachen teilgenommen. Von 500 englischsprachigen Teilnehmern gibt es bereits erste Ergebnisse. Einige Menschen, die bei der Umfrage angaben, nicht sehr einsam zu sein, teilten mit, sich selbst mehr zu pflegen. Andere, die angaben, sich nicht einsam zu fühlen, essen mehr als normalerweise, vielleicht weil sie "Essen als Kompensation benutzen", wie Fairhurst sagt. Was sich für die Wissenschaftler bisher ebenfalls schon abzeichnet: "Jüngere Leute fühlen sich nicht so einsam wie Ältere, sie sind aber gestresster", sagt Fairhurst. Sie sieht auch bereits Unterschiede bei den Geschlechtern: Frauen seien gestresster, betrieben aber mehr "self grooming", also so etwas wie ein Bad nehmen. "Es scheint, als hätten Frauen schon Methoden, den Stress in Form von Berührungsmethoden abzubauen", sagt Fairhurst. Männer täten sich da schwerer.

Ziel der Studie ist es auch, herauszufinden, was es gibt, um diese Zeit zu überstehen. Nur vom Vorstellen wird schon das Belohnungssystem aktiviert", sagt Fairhurst. Diese Erkenntnis soll in eine App fließen, die die Forscher entwickeln. Mit ihr soll man "Umleitungsmechanismen" trainieren können. Also quasi vom bloßen Vorstellen einer Berührung, vom Hören oder Sehen zum Besserfühlen.

An der Online-Umfrage kann man weiterhin teilnehmen unter www.covid.iasat.org.

© SZ vom 22.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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