Nachruf:Der Unbehauste kehrt zurück

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Der Künstler Siegfried Kaden verbrachte ein Vierteljahrhundert in Kuba. (Foto: Michael Eichberger/oh)

Der Künstler Siegfried Kaden gehörte einst zu den Jungen Wilden in München, dann zog er nach Havanna. Dem Weltschmerz begegnete er mit Ironie und zeichnete bis zuletzt an seinem Lebens-Comic. Jetzt ist er im Alter von 77 Jahren gestorben.

Von Martina Scherf, München

Hätte das Krokodil im Stuttgarter Zoo damals beherzter zugeschnappt, wäre der Welt womöglich ein großartiger Künstler verloren gegangen. So war nur das Skizzenbuch weg, mit dem Siegfried Kaden dem Tier vor der Nase herumgewedelt hatte. Der Akademiestudent kam 1969 mit dem Schrecken davon und zeichnete weiter Hasen, Hunde, Vögel, Pferde, nicht mehr so viele Krokodile. Seine spätere Kunst war ein ständiger Dialog mit seiner Umwelt und eine lebenslange Selbstbefragung als Künstler und Mensch. Kaden, der zuletzt in München und Havanna lebte, hinterlässt ein voluminöses Werk aus Gemälden, Zeichnungen, Objekten und Installationen. Viele davon befinden sich in den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, im Lenbachhaus, in der Albertina in Wien. Am vergangenen Samstag ist Siegfried Kaden in München im Alter von 77 Jahren gestorben.

Als einen "Unbehausten" hat er sich einmal selbst bezeichnet. Hineingeworfen in eine Welt, die ihm Geborgenheit verwehrte. Am 29. März 1944 in Dresden geboren, flohen die Eltern mit dem einzigen Sohn aufs Land, als Fliegerbomben die Stadt in Schutt und Asche legten. Nach Kriegsende rettete eine Bäuerin sein Leben, indem sie ihr Pferd gegen das Kind tauschte, das ein russischer Soldat bedrohte. Das Pferd wurde zum wiederkehrenden Motiv in Kadens späterem Werk.

Er war sieben Jahre alt, als die Eltern in den Westen gingen, das bedeutete Neuanfang und Unsicherheit, Verlust der Heimat. Im Internat in Feldafing erlebte er militärischen Drill und Willkür. Doch das Zeichnen war schon damals sein privater Rückzug. Ein Betriebswirtschaftsstudium, auf Wunsch des Vaters begonnen, brach Kaden bald ab, meldete sich stattdessen an der Akademie in Stuttgart an und geriet in die Wirren der Achtundsechziger. Malen galt den Revoluzzern als reaktionär, sie beschmierten seine Bilder mit Senf. Da floh er nach Wien und landete in der Klasse von Rudolf Hausner, einem Vertreter des Phantastischen Realismus. Der Geniekult an der Akademie allerdings stieß ihn ab.

In München wurde Kaden Kunstlehrer am Gymnasium, um bald festzustellen, dass der Schuldienst nichts für ihn war. "Ich hatte zu der Zeit Freunde, die bei Beuys studierten und sagten: Du musst Dinge tun, die mit dir selbst zu tun haben", erzählte er später. Er befreite sich schließlich aus allen Verpflichtungen und fand einen eigenen Weg. 1981 hatte er eine erste Ausstellung im Münchner Kunstforum des Lenbachhauses mit "Wandzeichnungen."

Die Achtzigerjahre bedeuteten Kadens Durchbruch, er hatte Ausstellungen in Museen und Galerien, er probierte sich aus, ließ sich mitreißen vom Leben. In München gehörte er zu den Jungen Wilden - und blieb doch immer ein Solitär, nicht einzuordnen in eine der gängigen Schubladen. Mit seinem Freund Klaus Staeck, dem späteren Präsidenten der Berliner Akademie der Bildenden Künste, klebte er einmal nächtelang Plakate für eine Anti-Strauß-Veranstaltung im Münchner Hofbräuhaus. Wenig später verhörte ihn der Verfassungsschutz - sie verwechselten ihn mit einem RAF-Sympathisanten, der Kaden ähnlich sah, mit Vornamen ebenfalls Siegfried hieß und wie Staeck in Heidelberg wohnte. Die Verfassungsschützer sagten Kaden: "Du fährst zu oft nach Heidelberg". Heinrich Böll, dem Staeck diese Anekdote berichtet hatte, verarbeitete sie in einer gleichnamigen Erzählung. Es waren politisch aufgeheizte Zeiten.

"Selbstporträt, Blick nach draußen", 2015. (Foto: Picasa)

Kaden war viel zu empfindsam, zu verwundbar, um sich von welchen Gruppierungen auch immer vereinnahmen zu lassen. Was ihn bewegte, verarbeitete er in seiner Kunst. George Grosz und Otto Dix, die künstlerischen Chronisten der Weimarer Republik, standen ihm nahe. Aber Kaden war ein Humanist, er betrachtete seine Mitmenschen ohne Sarkasmus, distanziert, aber mit empathischem Blick. Oft tauchen Freunde und Weggefährten in seinen Bildern auf. Und schon früh kennzeichnend: sein meisterlicher Strich, seine feine Ironie. Zum Beispiel in der Bildergeschichte vom "Hase Hannibal" (1988 von der Stiftung Buchkunst ausgezeichnet), der seinen sexuellen Abenteuern und Exzessen frönt, bis die Ohren wie Hubschrauberblätter um seinen Kopf wirbeln und er durchzudrehen droht.

Bald hatte Kaden vom eitlen München genug. "München ist eine unerträglich reiche Stadt", notierte er in seiner Autobiografie, "da gibt es Leute, die reich geerbt haben. Die Kunst erwerben wie Aktien und mit einer unerträglichen Dummheit über Kunst reden. Ich begann mich in diesem Milieu wie im Kreise zu drehen." Er floh. Zuerst nach New York. Dann nach Havanna.

"Ein Pferd stirbt", 2015/16. (Foto: Picasa)

In Kuba fand er Vieles vertraut, was er noch aus Kindheitstagen in der DDR kannte. Er beschloss, zu bleiben, fand zu neuer schöpferischer Kraft. Der romantischen Verklärung des Tropensozialismus fiel er nie anheim. Er blieb ein teilnehmender Beobachter, lernte, mit dem Mangel zu leben - an Farbe und Leinwand, an Butter oder Hühnchen. Er lehrte zeitweise an der nationalen Kunstakademie, bewies erstaunliche Beharrlichkeit im Umgang mit den Kulturbürokraten und baute auch als Kurator Brücken zwischen der Alten und der Neuen Welt. Mehrfach holte er junge kubanische Künstler nach München.

Die Stadt, die Frau, die Einsamkeit wurden zu zentralen Motiven. 1998 erschien der Zyklus "Stille Tage in Havanna" im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, mit Texten von Johannes Willms. Die Kontakte nach München hielt Kaden aufrecht, ja, er pflegte sie ganz bewusst, mit Hunderten Briefen und Postkarten, geschmückt mit liebevollen kleinen Zeichnungen. "Pardon, es gibt in ganz Havanna keine Briefumschläge", steht auf einem wiederverwerteten Kuvert samt Selbstporträt. "Ich denke, Olaf hat auch nichts dagegen" als Sprechblase über einem Foto des jungen Fidel Castro. Der Máximo Líder taucht in mehreren Werken auf, nicht als Held, eher steht er verloren am Rand.

2019 war eine Retrospektive mit Kadens Werken aus Kuba in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste zu sehen. Er kehrte nach Havanna zurück, und dann begann der Krebs seinen Körper zu schwächen. Bis zum Frühjahr 2020 zeichnete er in seinem kleinen Atelier wie im Rausch. Die Corona-Pandemie hatte Kuba erreicht, der Lockdown war brutal, die Lebensmittel knapp. "Scheisse, ich habe Hunger", kritzelte er über ein Selbstporträt, das ihn ausgezehrt über einem leeren Rahmen hängend zeigt. Ein Todesengel breitet seine Flügel mit rot lackierten Fingernägeln über einem Selbstporträt aus. Mit einem der letzten Flugzeuge konnte Kaden nach München zurückkehren, um sich behandeln zu lassen. Die 58 Zeichnungen, die er im Koffer mitbrachte, waren Anfang dieses Jahres in der Galerie Biedermann ausgestellt. Bis zuletzt war er hellwach, bewahrte sich einen Schuss Ironie gegenüber dem Weltschmerz.

"In Siegfried Kaden habe ich einen langjährigen sehr verlässlichen Freund und solidarischen Künstlerkollegen verloren. Seine Kommentare werden mir fehlen. Seine zahlreichen Briefe an mich, alle versehen mit einer seiner unverwechselbaren Zeichnungen, hüte ich wie einen Schatz", schreibt Klaus Staeck. Viele von Kadens Freunden, Künstlerkollegen, Galeristen werden dies teilen.

Siegfried Kaden hat den Kampf gegen die Krankheit verloren. Doch zuvor brachte er noch seinen autobiografischen Comic zu Ende. Er ist auf 255 Zeichnungen angewachsen, beginnend mit der Bombennacht in Dresden bis zum Kampf gegen den verdammten Krebs. Schon vor ein paar Jahren zeichnete er sich mit Pinsel an der Leinwand sitzend, von draußen schaut eine Kubanerin herein, die Sonne scheint. Er glaube, schrieb er dazu, dass "das letzte Bild in meinem, diesem Leben keine kubanische Landschaft sein wird, sondern eine bayerische Landschaft mit viel, viel Schnee ...". Er hatte keine Angst vor dem Tod. Authentisch sein, darum ging es ihm immer. Künstler sein hieß für ihn zuallererst: Mensch sein.

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