Krankhafter Medienkonsum:Wenn die reale Welt immer bedeutungsloser wird

Lesezeit: 4 Min.

In der Therapie behandelt Steffen Schmid auch Patienten mit Medienabhängigkeit. (Foto: Florian Peljak)

Aus Nächten werden Tage, bis der Computer 24 Stunden am Stück durchgehend läuft: Warum Menschen süchtig nach Computerspielen werden - und was man dagegen tun kann. Besuch in einem Münchner Beratungszentrum.

Von Stefanie Fischhaber

Das Headset auf den Ohren, die Augen starr auf den Bildschirm gerichtet, Computermaus in der einen Hand, die andere an der Tastatur. Anfangs waren es nur ein paar Stunden am Abend, die Ronald Stolz so verbrachte. Irgendwann saß er dann ganze Nächte vor dem PC. Aus Nächten wurden Tage, bis der Computer 24 Stunden am Stück durchgehend lief. Dass er sich in einer Abhängigkeit befand, war Ronald Stolz damals noch nicht bewusst.

Die Leidensgeschichte des heute 41-Jährigen begann in den frühen 2000er-Jahren. Ein Vertriebskollege habe ihn auf das Spiel "World of Warcraft" gebracht. "Wir haben uns dann regelmäßig getroffen und gemeinsam gezockt", sagt der Schwabe. Irgendwann reichte ihm das allerdings nicht mehr: Er wollte die Online-Welt erkunden und dort neue Menschen kennenlernen. "Da haben sich natürlich Freundschaften entwickelt", sagt Stolz. Durch das Zocken habe er eine Verbundenheit zu anderen aufgebaut. "Man bekommt mit, wenn man was trinkt, eine Zigarette anmacht, das Fenster öffnet oder draußen der Zug vorbeifährt. Deswegen hat man einen sehr starken Bezug zu den anderen." Heute weiß Stolz, dass seine Mediensucht auch durch eine soziale Abhängigkeit ausgelöst wurde.

"Ich hatte damals kein großes Selbstbewusstsein. Aber online wurde man plötzlich gebraucht, die Leute haben sich umeinander gekümmert", sagt Stolz. Zu der Angst, etwas zu verpassen, schlich sich auch das Gefühl, andere im Stich zu lassen, wenn er offline ging. Die reale Welt wurde immer bedeutungsloser: Anstatt Zeit mit Freunden zu verbringen, baute er sich eine Lügenwelt auf, um zu zocken. Zehn Jahre dauerte es, bis Stolz aus seiner Abhängigkeit herausfand.

Ein Einzelfall ist er nicht. "Krankhafter Medienkonsum wird immer verbreiteter", erklärt Steffen Schmid. Der psychologische Psychotherapeut arbeitet bei der Beratungsstelle Tal 19 am Harras. Eine Mediensucht diagnostiziere er dann, wenn der Konsum negative Konsequenzen auf den Alltag habe. Das trete zum Beispiel ein, wenn Betroffene ihre Arbeit nicht mehr bewältigen können. Ähnlich wie bei Alkohol- oder Drogensucht gehe es auch hier nicht allein um die Menge des Konsums, sondern um die Konsequenzen. Auch die Fähigkeit zur eigenen Konsumkontrolle und die Bedeutung des Konsums im Alltag spielten bei der Diagnose eine Rolle.

Medienabhängigkeit wird erst seit Januar 2022 offiziell als Krankheit anerkannt

Negative Konsequenzen spürte auch Ronald Stolz: Er wechselte häufig den Job, wurde arbeitslos, seine Frau trennte sich von ihm. "Dadurch habe ich gemerkt, dass es das nicht gewesen sein kann", sagt er. Stolz versuchte einen Neustart, zog von Zuhause aus und begann eine Umschulung zum Mechatroniker. Über seine Abhängigkeit sagt er heute: "Das ist, als würde man Winterschlaf halten, die Zeitung aufschlagen und merken, was alles in den letzten Jahren passiert ist." Obwohl er in dieser Zeit viele tolle Menschen kennengelernt habe, habe ihm die Sucht doch zehn Jahre seines Lebens gestohlen.

Einen Ausweg fand er durch Ablenkung und Disziplin: Er stürzte sich in seine neue Arbeit und stellte Regeln auf, um eine digitale Balance zu halten. Eine Therapie hat Stolz nicht gemacht: "Es gab damals absolut noch keinen Zugangspunkt für Therapien", sagt er.

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Medienabhängigkeit wird erst seit Januar 2022 offiziell als Krankheit anerkannt. Erst seitdem werden die Kosten für eine Behandlung von den Krankenkassen übernommen. Das Beratungszentrum Tal 19 führte im Mai eine offizielle Mediensuchtambulanz ein, die Therapien ermöglicht. Doch Betroffene gibt es nicht erst seit ein paar Monaten. "In den letzten Jahren kamen konstant immer mehr Betroffene zu uns", sagt Schmid. Im Schnitt habe er einen neuen Patienten in der Woche, schätzt er. In ganz Deutschland ist laut einer Studie des Bundesgesundheitsministeriums aus dem Jahr 2013 etwa ein Prozent der 15- bis 65-Jährigen an einer Mediensucht erkrankt.

Bei Drogen oder Alkohol kann man vollständig abstinent werden. Aber bei Medien?

Die Erkrankten, die sich an Steffen Schmid wenden, sind meist Männer und Studenten. Besonders in Prüfungsphasen sei der Andrang im Beratungszentrum groß. Dort wird dann der individuelle Medienkonsum unter die Lupe genommen. "Es wird geschaut, ob ein schädlicher Gebrauch oder schon eine Abhängigkeitserkrankung vorliegt", sagt der Therapeut. Je nach Ergebnis kämen verschiedene Behandlungsmethoden infrage - von einem fünfstündigen Kurzprogramm bis zu einer zwölfmonatigen Therapie. "Ein wichtiger Baustein der Therapie ist die Lebensqualität, weil durch den übermäßigen Medienkonsum wichtige andere Lebensbausteine wegfallen, zum Beispiel soziale Kontakte, Bewegung oder Ernährung", erklärt Schmid. In der Therapie lernen Patienten nicht nur, wie ihre Sucht entstand, sondern auch, wie sie Kontrollstrategien erarbeiten können, um schädlichen Medienkonsum zu verhindern und soziale Kompetenzen zu verbessern.

Ronald Stolz fand selbst den Weg aus der Abhängigkeit. Noch heute unterstützen ihn Selbsthilfegruppen, die er anfangs privat organisierte. Mittlerweile teilt er seine Erfahrungen über den Münchner Verein "Aktiv gegen Mediensucht", betreibt dort Aufklärung und Prävention.

Um zu verhindern, dass eine Abhängigkeit überhaupt erst entsteht, gibt es zahlreiche Präventionsprogramme. Der Kreisjugendring oder die Krankenkasse IKK Classic bieten zum Beispiel Medienkompetenztrainings für Jugendliche, Kinder, aber auch Erwachsene an. Dort lernen Teilnehmende, wie sie Medien verantwortungsbewusst, sinnvoll und selbstbestimmt nutzen. "Ziel des Medien-Seminars ist es, Anreize zu setzen, sich näher mit dem Thema zu beschäftigen und einen Einstieg zu finden", sagt IKK-Sprecherin Viktoria Durnberger. Schmid findet vor allem das Training von Eltern wichtig: "Wir alle lernen an Modellen. Die Kinder von heute lernen am Modell ihrer Eltern, wie mit digitalen Medien umgegangen wird."

Seinen Umgang mit Medien hat Stolz nun seit sieben Jahren im Griff. Doch die Gefahr, rückfällig zu werden, ist noch da: "Wir können, wenn es um Mediensucht geht, nicht von kompletter Abstinenz sprechen, wie es bei Drogen oder Alkohol der Fall ist, weil wir das einfach zum Leben brauchen", meint Stolz. Trotz seiner Vergangenheit zocke er auch heute noch von Zeit zu Zeit. "Aber wenn ich spiele, dann nur für mich und nicht für andere."

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