Literatur im Herbst:Worten Gehör verschaffen

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"Republik der Taubheit": Ilya Kaminsky stellt sein bewegendes Buch in München vor. (Foto: Cybele Knowles/The University of Arizona Poetry Center)

Die Buch-Herbstsaison beginnt mit vielstimmigen Lesungen insbesondere im Literaturhaus - mit so unterschiedlichen Autorinnen und Autoren wie Ilya Kaminski, Theresia Enzensberger oder Reinhold Messner.

Von Antje Weber

"Und als sie die Häuser der anderen zerbombten / protestierten wir, / aber nicht genug, wir waren dagegen, aber nicht / genug." So beginnt Ilya Kaminskis Buch "Republik der Taubheit". Die Wirkung ist unmittelbar und eindringlich; bereits die erste Seite dieses zeitlos gültigen, so grausamen wie zärtlichen Langgedichts oder Märchens erzählt schließlich von einem "großartigen Land des Geldes", das nicht unbedingt Amerika heißen muss. Von einem Land, in dem "lebten wir (vergib uns) / glücklich während des Krieges".

Dass die Herbstsaison des Literaturhauses mit Ilya Kaminski startet, kann man als Statement werten; dass der ukrainisch-russisch-jüdisch-amerikanische Dichter, Kritiker und Lyrik-Professor am 13. September zu einem gemeinsamen Abend mit seiner deutschen Übersetzerin wie auch Schriftstellerkollegin Anja Kampmann anreist, ist zweifellos ein besonderes Ereignis. Literatur hat ja viele Funktionen - aufzuwühlen zum Beispiel, an dunkle Punkte zu rühren, für eigentlich Unsagbares eine womöglich neue Sprache zu finden. In diesem Fall gehört sogar die Gebärdensprache dazu. Denn die Bewohner der von Soldaten eingenommenen Stadt, deren Schicksal Kaminskis Buch erzählt, verweigern sich den gewalttätigen neuen Machthabern, indem sie sich taub stellen: "Unser Gehör lässt nicht nach, aber etwas Stilles in uns richtet sich auf."

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Nach langer pandemischer Vorsicht bieten verstärkt auch wieder Buchhandlungen Lesungen an

In der ersten Saison-Woche darf jedoch nicht nur dieser aufrüttelnde Literaturhaus-Abend als programmatisch gelten - innerhalb nur weniger Tage werden sich am Salvatorplatz unterschiedlichste Stimmen und Themen auf je eigene Art Gehör verschaffen. Und nicht nur dort, denn zur rasch anschwellenden Vielstimmigkeit tragen viele weitere Institutionen bei, vom Lyrik Kabinett mit einem Mittelalter-Special (12.-16. Sept.) bis zum Institut Français mit Krimi-Autor Jean-Christophe Rufin (15. Sept.). Nach langer pandemischer Vorsicht bieten verstärkt auch wieder Buchhandlungen Lesungen an - zum Beispiel Lehmkuhl (am 13. September spricht Rebecca Donner anhand ihrer Urgroßtante Mildred Harnack über den Widerstand der Roten Kapelle gegen Hitler) und die Buchhandlung Lentner. Dort stellt am 15. die Wiener Autorin Eva Biringer ihr Buch "Unabhängig" über Alkoholismus von Frauen vor; wie aktuell drängend diese Problematik zu sein scheint, zeigt auch ein Literatur- und Filmabend am 11. im Rationaltheater, zu dem unter anderem die Leipziger Autorin Christine Koschmieder mit ihrem Roman "Dry" anreist.

In verschiedenster Hinsicht wird auch das Übersetzen immer wieder Thema sein: Am 14. September erklären die Experten Elina Kritzokat und Maximilian Murmann im Literaturhaus etwa, wie sich finnische Literatur am besten übersetzen lässt. Und bei einem Doppel-Abend am 15. September wird selbst Übersetzung nötig sein, wenn gleich zwei US-amerikanische Autoren ihre neuen Werke präsentieren: Hernán Díaz stellt seinen vielbeachteten Roman "Treue" über die Finanzwelt vor, Lauren Groff dagegen wählt in "Matrix" die Klosterwelt des Mittelalters, um von weiblicher Emanzipation und Gemeinschaft zu erzählen. Ein weiterer Abend zu "Great American Novels" ist für den 20. September geplant: Amor Towles wird dann mit einem neuen Roman den "Lincoln Highway" entlangdüsen. In dieser Road Novel und Gaunerkomödie reisen vier junge Männer 1954 durch das Land der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten; es ist ein anrührendes Epos, das in ruhigem Erzählton vor dem Hintergrundröhren eines 1948er Studebakers dahinschnurrt.

Präzision und Witz - die Schriftstellerin und Raucherin Mechtilde Lichnowsky ist wiederzuentdecken. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Dass in männerdominierten Gesellschaften die Stimmen von Frauen im Laufe der Geschichte oft unterzugehen drohten, macht ein anderer Abend deutlich: In der Reihe "Klassiker des Monats" wird es am 14. September um die Schriftstellerin Mechtilde Lichnowsky (1879-1958) gehen. Zu den Klassikern zählt ihr Werk, zu ihren Lebzeiten gefeiert und heute fast vergessen, allerdings nun leider nicht wirklich. Eine mehrbändige Werkausgabe will das ändern; schließlich besitzen die Romane, Erzählungen und Gedichte dieser Schriftstellerin, wie die Kollegin Eva Menasse heute verblüfft in einem Vorwort feststellt, "präzise Anschaulichkeit gepaart mit feinem Witz". Dass Lichnowskys Prosa "wendig, gelenkig, geschmeidig" ist, soll ein Literaturhaus-Abend mit Menasse sowie den Münchner Herausgebern Hiltrud und Gerhard Häntzschel am 14. September vorführen.

Ob es zu diesem Abend so viele Zuhörerinnen und Zuhörer ziehen wird wie vermutlich zu Reinhold Messner? Der Bergsteiger und Bestseller-Sachbuchautor hat sich zusammen mit seiner Frau Diane Gedanken zu "Sinnbildern" und "Verzicht als Inspiration für ein gelingendes Leben" gemacht (19. Sept.). Zuvor jedoch wird das Literaturhaus in seinem Anfangsreigen vorführen, dass es sich auch ambitionierten jungen Literaturstimmen öffnet - und der Science Fiction: Theresia Enzensberger präsentiert am 16. September ihren einfallsreich dystopischen Roman "Auf See"; sie erzählt darin von neoliberalen Zukunftsfantasien, von Sekten und Utopien aller Art - und ihrem Scheitern.

Erzählt von Utopien und ihrem Scheitern: Theresia Enzensberger. (Foto: privat)

Ideen der Vergangenheit auf ihre Tauglichkeit für Gegenwart und Zukunft abzuklopfen, auch das gehört ja zu den Funktionen der Literatur. Wie auch das Hinterfragen alter Rollenmuster: Garantiert nicht zufällig sind die Haupt- und Nebenrollen in Enzensbergers Roman fast alle von Frauen besetzt. Eine jugendliche Ich-Erzählerin namens Yada zum Beispiel wird zwar vom Vater, einem Sektengründer, gegen ihren Willen festgehalten - auf einer einst visionär als autark geplanten, allerdings inzwischen etwas abgerockten Insel. Im Laufe der Handlung erweist sich der furchteinflößende Herrschervater jedoch als eher armselig, "ein narzisstischer, aufgeblasener Mann". Ein Modell, das zumindest in diesem Roman ausgedient hat.

Lesungen von Ilya Kaminski, Theresia Enzensberger u.a., ab 13. Sept., u.a. Literaturhaus München, literaturhaus-muenchen.de

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