Lesungen in München:Am Anfang war der Ort

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Konstantin Wecker amüsierte sein Publikum in Finnerl's Gartenoase. (Foto: Robert Haas)

Beim Literaturevent "Hörgang" lesen 28 Autoren an 25 Orten im Arabellapark. Konstantin Wecker gibt den Entertainer in einer Schrebergartenwirtschaft, Birgit Birnbacher liest ihren Bachmann-Preis-Text - und in einer Hotelsuite gibt es Erotisches.

Von Yvonne Poppek

Gegen Ende des Abends, kurz nach elf Uhr, geht es in der Münchner Sheraton Suite 1850 hauptsächlich um Sex. Er ist Anfang 20, sie um die 50. Gerade haben sie sich auf einer Party kennengelernt, viele Worte sind nicht gefallen. Sie konzentrieren sich eher auf das Körperliche, wobei sie, Hanne, jetzt doch verunsichert ist wegen ihrer Falten und des nachlassenden Bindegewebes, während er, Mike, natürlich einen muskulösen Körper hat und ein goldenes Bauchnabelpiercing.

"Neuschnee im Vollmond" ist diese libidinöse Begegnung überschrieben. Ein Titel, den sich die Münchnerin Hanne Lore ausgedacht hat für ihren unveröffentlichten Roman. Aus dem liest sie vor gut 30 Zuhörern, die sich in der Suite 1850 auf den Sofas und Stühlen, dem Boden und auch im Bett niedergelassen haben. Für sie alle ist es die letzte Station beim Lese-Event "Hörgang" am Samstag. Dicht an dicht hocken sie da, bisweilen unentspannt, während Hanne Lore ihre Figuren öfter einmal die Stellung wechseln lässt.

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Dieses dichte Zusammenrücken ist quasi ein Grundmerkmal der Lesenacht: "Hörgang" spielt jedes Mal in einem anderen Münchner Stadtviertel. Diesmal ist es der Arabellapark mit 28 Autoren und 25 Orten - von der Privatwohnung bis zum polnischen Konsulat, vom Herren-Friseursalon bis zur Vespasammlung, vom Kebaphaus über die Schrebergartenwirtschaft bis zur Hotelsuite. Die Orte werden über die Geschichte erfahrbar - und das übrigens auch im wörtlichen Sinn, denn die meisten sind von Ort zu Ort mit dem Fahrrad unterwegs. Die Räume sind klein, das Interesse an den angekündigten 15-Minuten-Lesungen ist groß. Die 15 Minuten sind der Idee geschuldet, dass Autoren und Zuhörer genug Zeit zum Pendeln haben.

Das ist für Konstantin Wecker kein Grund, sein Programm derart abzukürzen, dass er nicht eine große Bandbreite seines Wirkens unterbringen kann. Wecker liest zur Eröffnung des Abends an einem Ort, der in der Dunkelheit der Schrebergartensiedlung versteckt ist: "Finnerl's Gartenoase". Das hilft trotzdem wenig, die Bude ist voll. Das Hüttchen verströmt den Flair der Achtzigerjahre. Holzbar, holzverkleidete Wände, tapeziert mit Fotos fröhlicher Menschen beim Biertrinken. Wecker steht an einem Partytisch neben der Garderobe und tut das, was er hervorragend kann: Er gibt den Entertainer. Weil die Runde mit knapp 40 Zuhörern so klein ist, ist keine Distanz zu spüren.

Karl die Große (links) hatte Spaß in der Vespasammlung. (Foto: Robert Haas)

Wecker beginnt mit dem Politischen, liest aus "Auf der Suche nach dem Wunderbaren. Poesie ist Widerstand", mahnt zu Mitgefühl und Empathie, warnt vor Unterdrückung und einer Kultur, in der das Geld das Entscheidende ist. Dann wechselt er zu seiner Biografie, "meiner dritten", wie er scherzt, um schließlich sein Lied "An meine Kinder" zu singen, aus dem Stand, als würde er improvisieren für die Schrebergartenrunde, die da so ungezwungen beieinanderhockt. Die lauscht ganz andächtig Weckers schmetterlingsleichtem und doch eindringlichem Gesang.

Finnerl's Gartenoase liegt abgeschieden und bildet auf skurrile Weise den Gegensatz zur Privatwohnung eines Pathologen in der Pixisstraße. Dort dominiert die Farbe weiß, die Oberflächen sind glatt, in den Regalen steht Fach- und Weltliteratur. Die diesjährige Bachmann-Preisträgerin Birgit Birnbacher sitzt dort fast Knie an Knie mit ihren Zuhörern. Der Gastgeber nimmt seine Rolle ernst, es gibt Rotwein und Rosé-Sekt. Auch Birnbacher stößt an, bevor sie einen Ausschnitt aus ihrem Bachmann-Text "Der Schrank" liest, den man gerne auch noch länger verfolgt hätte. Aber die junge österreichische Autorin ist ganz korrekt. Nach 15 Minuten ist Schluss.

Birgit Birnbacher wurde bei einer Wohnzimmerlesung gut versorgt. (Foto: Robert Haas)

Diese Korrektheit wünschen sich auch wenig später gegen 22 Uhr dann diejenigen, die in den Resträumen der legendären Musicland-Studios - dem Ort, wo einst die Alben von etwa Deep Purple, Queen, den Stones oder Iggy Pop abgemischt wurden - sitzen. Viel Rest ist das nicht: ein schmaler, knallrot gestrichener Gang, zwei ehemalige Sanitärräume und ein Pornoposter. Frank Jakubzik liest seine Erzählung "Der Gedankenkünstler", während die Leute ins Schwitzen geraten, sich vornüberbeugen, als säßen sie in der Sauna, schwindelnd vor Hitze und Sauerstoffmangel.

Ein etwas besseres Schwindelgefühl stellt sich dann im 18. Stock des Sheraton-Hotels ein. Zumindest, wenn man vom Balkon blickt. Doch dafür lässt Hanne Lore keine Zeit. 23 Uhr ist es, ihre letzte Lesung. Ihre schon strapazierte Stimme versucht sie mit Salbeitee in den Griff zu bekommen, den sie in der Thermoskanne dabei hat. Hanne Lore ist 72, ihre Romandebüt - so sie einen Verlag findet - widmet sich freizügig der Erotik. Die Autorin liest mit der gleichmütigen Stimme einer Gute-Nacht-Erzählerin. Am Ende des Satzes geht die Stimme runter, dazwischen gleitet sie sanft über die Worte hinweg. Ab und zu nimmt Hanne Lore einen Schluck Salbeitee. Das passt nicht zum Text, aber zu Hanne Lore und überhaupt zum Hörgang-Abend, der auf wunderbare Weise Gegensätzliches vereint.

© SZ vom 21.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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