Kinofilm:Schnitt ist was für Anfänger

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Timing und Logistik waren das A und O: Regisseur Tim Dünschede im Gespräch mit Schauspielerin Elisa Schlott. (Foto: Luis Zeno Kuhn)

Der Münchner Filmnachwuchs traut sich was: Tim Dünschede und Holger Jungnickel haben einen Thriller in einer einzigen Einstellung gedreht. Nun ist "Limbo" auf großer Leinwand zu sehen.

Von Bernhard Blöchl

Die vielleicht längste Kamerafahrt der jüngeren Münchner Filmgeschichte kann man sich in etwa so vorstellen: Vom Büro in den Highlight Towers geht es per Taxi über den Ring und die Leopoldstraße zur Tankstelle in der Ungererstraße. Von hier aus weiter zum ehemaligen Umspannwerk im Englischen Garten. Dort, in rohen Industriehallen, steigt ein illegaler Faustkampf, während im Hinterzimmer ein Wiener Gangsterboss seine schmutzigen Geschäfte mit Krypto-Währung einfädelt. Die Kamera folgt den Protagonisten, gleitet von einem zum anderen, immer weiter, schwenkt über Dutzende Statisten, ohne Unterbrechung.

Es gibt Filmemacher, die gehen auf Nummer sicher. Sie halten sich an die Regeln des Genres, setzen auf Schauspielprominenz oder verlassen sich auf die Kunst des Cutters. Zusammenschneiden kann man hinterher immer noch. Und dann gibt es Filmemacher, die suchen das Risiko, nicht nur inhaltlich, auch formal. "Limbo" ist so ein Film, bei dem so vieles hätte nicht klappen können. Dass der temporeiche Finanz-Thriller in diesen Tagen in den Kinos anläuft (unter anderem im City und im Monopol), ist ein kleines Wunder. Und eine tolle Anerkennung für die Mutigen, die das Wagnis eingegangen sind. Sie zeigen damit auch: Der Münchner Filmnachwuchs traut sich was.

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Es kommt ja nun nicht so selten vor, dass ein Abschlussfilm der Münchner Filmhochschule den Sprung auf die große Leinwand schafft. Aber dass es sich hierbei um einen sogenannten "One-Shot-Film" handelt, eine nicht sehr verbreitete, weil höchst anspruchsvolle Disziplin, ist neu. Hier wird eine spielfilmlange Geschichte in einer einzigen, fortlaufenden Einstellung erzählt, konkret: von den Schwabinger Highlight Towers in die umfunktionierten Industriehallen im Englischen Garten. Wenn ein Schauspieler aus seiner Rolle fällt, Aus und vorbei. Wenn ein paar der bis zu 100 Komparsen versagen, Pech gehabt. Wenn der richtige Aufzug nicht kommt, schade drum.

Auf einen Cutter hat Tim Dünschede also komplett verzichtet. Stattdessen musste der Regisseur seinen HFF-Diplomfilm genauer vorbereiten und durchplanen, als das sonst üblich ist. Die Logistik war das A und O, Dinge, die in dieser Form nicht auf dem Lehrplan stehen. Der 35-Jährige erinnert sich an die Urintention: "Wenn wir scheitern, dann hier und jetzt." Den "geschützten Rahmen einer Hochschule" habe er ganz bewusst ausnutzen wollen. Gemeinsam mit seinem Kommilitonen, dem Kameramann Holger Jungnickel, der mit dem Film ebenfalls sein Studium abschließt, habe er sich für den ungewöhnlichen Weg entschieden. Beide arbeiteten schon bei Kurzfilmen zusammen ("Fremde", mehrfach preisgekrönt). Beide lieben es, sehr visuell zu erzählen. Beide hatten im Studium einen kühnen Plan: "Holger sagte irgendwann: Ich habe ,Victoria' so hart abgefeiert - wollen wir nicht auch einen One-Shot-Film machen?" Sie wollten.

"Victoria" ist die jüngste Blaupause dieser Art Filme. Sebastian Schippers 140-minütige Einstellung ohne Schnitt bekam 2015 diverse Preise, darunter mehrmals die "Goldene Lola". "Limbo" ist ebenfalls eine filmische Reise in die Nacht hinein, wenngleich ohne Love-Story und mit knapp 90 Minuten nicht ganz so lang. Erzählt wird von einem Geldwäsche-Netzwerk in der Münchner Unterwelt. Die junge Managerin Ana (Elisa Schlott) entdeckt ungewöhnlich hohe Rechnungsbeträge in den Firmenunterlagen, aber ihr Boss (Mathias Herrmann) will davon nichts wissen. Um Klartext mit ihm reden zu können, begleitet sie ihn an einem Freitagabend in einen Club, wo illegale Faustkämpfe ausgetragen werden. Hier, im Unterschlupf des Gangsterbosses, den alle nur den "Wiener" nennen (Christian Strasser), laufen die Fäden der Story zusammen. Hier begegnen sich die Karrierefrau, ihr Boss, der Wiener, ein alternder Kleinganove (Martin Semmelrogge) und dessen scheinbarer Vertrauter (Tilman Strauß). Letzterer arbeitet als verdeckter Ermittler, was die Sache noch komplizierter macht. Den Figuren mag es etwas an Vielschichtigkeit und Komplexität fehlen, aber der Sog des Genrestücks ist stark (Drehbuch: Anil Kizilbuga, gefördert vom Film-Fernseh-Fonds Bayern).

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Mindestens ebenso abenteuerlich wie den Plot kann man sich den Dreh vorstellen. Die Idee zum Film sei im Frühjahr 2018 entstanden, erzählt Tim Dünschede. Im Sommer wurde gecastet, im Herbst geprobt und gedreht. Insgesamt dreieinhalb Wochen im September. Zunächst standen lockere Schauspielproben und Choreografie auf dem Plan. "Dafür haben wir in der HFF mit Tischen die Räumlichkeiten nachgebaut." Später kam der Kameramann dazu, dann wurden die Spielszenen an den Originalmotiven trainiert. Bei der ersten Durchlaufprobe am Stück wurde zunächst "nackt", also ohne Komparsen gedreht. "Ich musste mich als Regisseur fragen, was funktioniert, was nicht?" Später drehte das etwa 50-köpfige Team zweimal den kompletten Film durch. Alles musste auf Anhieb sitzen, jedes Wort, jede Aktion.

"Ich war ein einziges Nervenbündel", erzählt Dünschede. "Ich war immer hinter der Kamera, versteckt in Ecken, mit meinem kleinen Monitor." Er habe mitgehofft und gefiebert. "Man lernt, mit dem Risiko zu leben", sagt er. Selbstverständlich gab es auch kleinere Pannen: eine rote Welle auf der Leopoldstraße zum Beispiel, die das ganze Timing durcheinanderbrachte; ein Schauspieler, der bestimmte Schlüsselwörter nicht sagte und damit seinen Spielpartner irritierte; Aufzüge, die nicht schnell genug gekommen sind. Aber der zweite Durchlauf habe sie schließlich überzeugt. "Es war eine ganz eigene, unglaublich positive Anspannung. Alle wussten, wie wichtig das jetzt ist." Hinterher sei lediglich Kosmetik betrieben worden, hier und da nachsynchronisiert und nachretuschiert, ein paar Effekte, etwas mehr Blut.

Wichtig für das Gelingen des Projekts waren auch die Produzenten. Sie mussten ein derart waghalsiges, zum Scheitern fast schon prädestiniertes Vorhaben erst einmal finanziert bekommen und Probleme unterschiedlicher Art lösen. Das Budget beziffert Tim Dünschede auf "knapp über 100 000 Euro". Mit Fabian Halbig und Florian Kamhuber stärkten dem Team zwei weitere HFF-Kollegen den Rücken. Deren Firma Nordpolaris hat bereits die beeindruckende Kinderwunsch-Dramödie "Dinky Sinky" produziert. Halbig, Dünschede und Jungnickel haben davor schon mehrere Kurzfilme zusammen gemeistert, sie sind ein eingespieltes Team. Für "Limbo" haben die Nordpolaris-Freunde bei den jüngsten Hofer Filmtagen den VGF Nachwuchsproduzentenpreis bekommen. Dieser ist mit 60 000 Euro sehr hoch dotiert. So sieht es aus, wenn sich Risikobereitschaft auszahlt.

© SZ vom 21.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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