Kritik:Angenehm modern

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John Cale hier nicht in München, sondern vor wenigen Tagen in Prag. (Foto: Michaela Rihova/Imago)

John Cale stellt in der Muffathalle sein ungewöhnliches Alterswerk "Mercy" vor - ein Blick zurück auf seine Weggefährten.

Von Markus Mayer

Ursprünglich ist John Cale ja Bratschist. Nach einem Stipendium in New York ist der Waliser zu Beginn der Sechzigerjahre in die Rockmusik gewechselt und in den Avantgarde Pop. Seriös ist er trotz Eskapaden geblieben. Bei Konzerten animiert er zwar nicht zum Mitklatschen oder gar zum Mitsingen, trotzdem hat er für eine Leuchtspur in der Musikgeschichte gesorgt.

In der ausverkauften Muffathalle stellt John Cale nicht nur sein neues Studio-Album "Mercy" vor, er hat auch über das Konzert als theatrales Geschehen nachgedacht. Über die Leinwand im Hintergrund flackern deshalb schon vor der Performance grisselige Farb- und Formstrukturen zu kühlen Synthieklängen. Im Konzert werden zu jedem Song passende Bildwelten projiziert (Bei "Moonstruck" etwa Porträts von Nico Päffgen, der selbstzerstörerischen Chanteuse, die einst bei Velvet Underground sang).

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Bei dem Song "Wasteland", Höhepunkt der zweiten Konzert-Hälfte, werden Schwarz-Weiß-Bilder einer furchtbar abgemagerten Frau an einem Stadtstrand gezeigt, während Cale die apokalyptische Düsternis der Zeit beschwört, unheilvoll dröhnen dazu Synthie und E-Gitarren. Cale schafft es also, radikale Spielweisen, die er einst mit Velvet Underground praktiziert hat, zu nutzen, es sind aber die flickernden Visuals, kommentierende oder illustrierende Bilder, die das Konzert angenehm modern erscheinen lassen.

Verblüffend ist auch das Instrumentarium, das der 80-Jährige einsetzt. Das neue Album ist ein ungewöhnliches Alterswerk, ein Blick zurück auf einstige Weggefährten wie Nico und David Bowie, arrangiert mit den Mitteln des Electro-Pop. Es fiept und wummert wie in Techno und House, mit Loops, Computerbeats und synthetischen Bässen. Live werden die neuen Songs, meist auf zwei Akkorde aufgebaut, von drei Begleitern und von Cale am Keyboard umgesetzt. Die Rhythmik der neuen Songs wirkt live packender, griffiger als auf dem Album. Leider kann man sich dazu nicht viel bewegen: Cale will Ruhe im Auditorium und hat Bestuhlung angeordnet.

Präsentiert werden zudem neu-arrangierte Auszüge eines verblüffenden Songbooks, unter anderem eine Spoken-Word-Version von "Style It Takes" aus dem Andy-Warhol-Projekt "Drella" sowie mehrere Songs des Albums "Paris 1919", dem unterschätzten Meisterwerk, das auf die Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg anspielt. Ansonsten gibt sich Cale bei diesem grandiosen Auftritt gewohnt wortkarg, nur zum Schluss verblüfft er mit der Ankündigung: "See You Next Time!" Das wollen wir hoffen, Mr. Cale!

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