Der "Anfang meines unglücklichen Daseins", so drückt sich Eva Leyerer aus, datiert bereits einige Jahre vor jenem Tag, an dem eine Räumungsklage sie aus ihrer Wohnung zwingt. Als Selbstständige habe sie zuvor lange Zeit gutes Geld verdient, erzählt die Frau mit dem freundlichen Lächeln, deren Augen im Gespräch unsicher hin- und her huschen. Doch dann seien ihre Depressionen immer schlimmer geworden, die psychische Krankheit habe ihr das Arbeiten unmöglich gemacht. "Es ist kein Geld mehr rein gekommen", erzählt sie, "und ich bin immer tiefer in die Verarmung gerutscht." Bis sie irgendwann ihre Miete nicht mehr bezahlen kann, und der Gerichtsvollzieher anrückt - 2018 ist das.
Ab diesem Tag ist Eva Leyerer - die heute 45-Jährige heißt in Wahrheit anders, will aber anonym bleiben - "wohnungslos", wie es offiziell heißt. Dieses Schicksal teilen mit ihr geschätzte 10000 Menschen in München, Tendenz steigend. Die Bandbreite reicht dabei vom suchtkranken Mann, der seit Jahren auf der Straße lebt, bis zur jungen Familie, deren Wohnung wegen Eigenbedarf gekündigt wurde. Zuständig für Wohnungslose ist die Stadt, die diese Menschen qua Gesetz unterzubringen hat. Bis 2017 geschah dies in Hotels, Pensionen und Unterkünften, wo die Bewohnerinnen und Bewohner oft weder ein eigenes Bad noch eine eigene Küche und mitunter nicht mal einen eigenen Schlüssel zu ihrem Zimmer hatten.
Allein diese Umgebung erschwert die Suche nach einer neuen Wohnung. Hinzu kommt in München die Mixtur aus hohen Mieten und zu wenig gefördertem Wohnraum, deretwegen Wohnungslose oftmals monate-, wenn nicht gar jahrelang auf eine Unterkunft angewiesen sind. Um die Situation dieser Menschen zu verbessern, beschloss der Stadtrat 2017 ein neues Konzept mit sogenannten Flexi-Heimen. Sie bestehen aus meist 100 bis 200 Apartments mit Bad und Kochnische sowie Gemeinschaftsräumen. "Durch die besondere Ausstattung kann in der langen Wartezeit auf eine Wohnung eine Situation hergestellt werden, die sich für die Untergebrachten schon weitgehend wie Wohnen anfühlt", heißt vom Sozialreferat. "Zudem wird die Abhängigkeit der Stadt vom Markt der gewerblichen Beherbergungsbetriebe reduziert."
Zwei jener Flexi-Heime, die nach dem Stadtratsbeschluss errichtet wurden, stehen in der Boschetsrieder Straße nahe dem Südpark. Und dort wohnt inzwischen auch Eva Leyerer, die nach der Zwangsräumung in verschiedenen Unterkünften lebte, ehe sie 2020 eines der Apartments in Obersendling ergatterte. "Hier habe ich endlich wieder meinen eigenen Bereich. Das ist wahnsinnig wichtig", sagt die 45-Jährige, die vor dem Umzug ins Flexi-Heim in Zweier- und Vierer-Zimmern mit anderen Wohnungslosen lebte. Nun hat sie ihr eigenes Reich - aus Küche, Bad und Wohnzimmer auf 18 Quadratmetern.
Ihr Apartment ist in einem Flexi-Heim Typ 2, das laut Sozialreferat für "mietfähige wohnungslose Haushalte" gedacht ist. Diese Personen, Paare und Familien könnten also prinzipiell eine Wohnung beziehen, sobald sie eine finden. Anders sieht es bei Bewohnerinnen und Bewohnern des Flexi-Heims Typ 1 aus. Dort ist dem Sozialreferat zufolge der Beratungs- und Unterstützungsbedarf ungleich größer, weshalb hier mehr sozialpädagogische Betreuung und rund um die Uhr ein Sicherheitsdienst anwesend sind.
Das Ziel in solch einem Flexi-Heim ist laut Sozialreferat, "die Erarbeitung der Mietfähigkeit". Jedoch sei dies oft ein schwieriges Unterfangen, gesteht Verena Büttner. "Da muss man so ehrlich sein und sagen, dass wir bei vielen Menschen nicht sehen, dass sie mittelfristig in eine Wohnung ziehen können." Büttner leitet die beiden 2020 eröffneten Flexi-Heime vom Typ 1 und 2 am Südpark, die von der Arbeiterwohlfahrt (Awo) München-Stadt betrieben werden. Sie sieht in den Häusern "einen Ort, wo Menschen vor einer fatalen Situation sicher sind und nicht auf der Straße sitzen". Und, so die Sozialpädagogin: "ein Ort, wo sich die Menschen neu sortieren können."
Den typischen Bewohner im Flexi-Heim gebe es nicht, sagt Verena Büttner beim Rundgang durchs Haus. "Die Menschen hier sind komplett gemischt - von alt bis jung, von der Akademikerin bis zum Ungelernten." Zwei wiederkehrende Gemeinsamkeiten gebe es jedoch. "Viele Menschen sind psychisch krank, oft auch suchtkrank und daher nicht arbeitsfähig", sagt die Sozialpädagogin. "Und viele haben einen migrantischen Hintergrund, arbeiten in prekären Jobs und haben es auf dem Wohnungsmarkt besonders schwer."
Auf ihrem Weg durchs Flexi-Heim schreitet Büttner durch einen langen Gang, von dem die Apartments abzweigen. Kein Bild hängt hier an der Wand, nur auf wenigen Türen kleben Namensschilder, und auch der Gemeinschaftsraum macht den Eindruck, als würden hier nicht allzu oft Menschen zusammensitzen. Alles wirkt anonym, fast steril. Und doch sei ihr jetziges Apartment um Weiten besser als jene Unterkünfte, in denen sie zuvor gelebt habe, betont Eva Leyerer. "Es tut gut, hier zu sein. Und die Umgebung finde ich toll."
Bisher gibt es in Flexi-Heimen Platz für 1250 Personen
Tatsächlich gibt es laut Verena Büttner fürs Flexi-Heim am Südpark eine Warteliste. Dies mag auch daran liegen, dass das Rathaus bisher hinter seinen Ausbauplänen zurückgeblieben ist. So beschloss der Stadtrat 2017, binnen acht Jahren 5000 Bettplätze in Flexi-Heimen zu schaffen. Aktuell gibt es laut einem Sprecher des Sozialreferats aber nur neun solcher Häuser für circa 1250 Personen. Zur Frage nach den anvisierten 5000 Betten sagt er: "Die Zielerreichung ist ambitioniert, an der Zielzahl wird aber grundsätzlich festgehalten." Ein Problem bei der Suche nach Standorten seien "die fehlenden Bauflächen und verhaltene Angebote durch private Investoren", so der Behördensprecher. Immerhin: Zuletzt hat der Stadtrat fünf neue Flexi-Heime beschlossen - in Freiham, Fürstenried, Moosach sowie zwei Häuser in Trudering.
Flexi-Heime hätten sich in der städtischen Wohnungslosenhilfe etabliert "und sind zu einem Aushängeschild geworden", konstatierte das Sozialreferat 2022 bei der Fortschreibung des Programms. Zugleich wurde festgehalten, dass die Einrichtungen bloß der "zeitlich befristeten Unterbringung" dienen sollen - und zwar "möglichst nur bis zu sechs Monate".
Allein, das bleibt oft Wunschdenken, so auch bei Eva Leyerer. Sie lebt inzwischen seit fast vier Jahren hier am Südpark, und genauso lange sucht sie schon vergeblich eine Wohnung. Was ihr das Apartment in dem Flexi-Heim bedeutet? "Für mich ist das mein Zuhause", sagt Eva Leyerer, ehe sie sich korrigiert. "Oder eher: mein armes Zuhause."