Das wünscht sich ja jeder Redner, jede Rednerin: Dass schon bei der Begrüßung und der Nennung des Anlasses für eine feierliche Zusammenkunft die Leute aufstehen und sie bejubeln. So geschah es Kathrin Lohr am Dienstagabend im Saal des Alten Rathauses: Kaum hatte die Geschäftsführerin des Straßenmagazins Biss verkündet, dass heute das 30-jährige Bestehen der Obdachlosen-Zeitschrift begangen werden solle, erhoben sich mehrere Hundert Gäste und jubelten Lohr zu, als hätte sie Pulitzer- und Nobelpreis gleichzeitig gewonnen.
Es war eine vertraute Gesellschaft, die sich zunächst bei Wein, Wasser und Schnittchen zum Ratsch zusammenfand - so vertraut, dass sie sich auch von Hans Well und seinen Kindern - den Wellbappn - und einem fetzigen Landler kaum in den Saal locken ließ. Als dann doch die meisten ihren Platz gefunden hatten, forderte Lohr Well auf, den Abend offiziell einzublasen: "Hans, jetzt könnma tuschen!"
In ihrer Begrüßung dann stellte Lohr den Biss-Verein als unabhängiges Sozialunternehmen vor, in dem heute immerhin 50 von 100 Verkäufern fest angestellt sind. Das musikalische Willkommen bildete die schon aus Biermösl-Zeiten bekannte Litanei, bei der in vermeintlichen Gegensatzpaaren alle, wirklich alle begrüßt werden: "De Zaundürra und de Gwampadn", "de Blitzsaubern und de Gschlampadn", ja sogar "de Grünwalder und de Steuerzahler".
Deutlich ersthafter wurde es dann beim Grußwort von Sozialbürgermeisterin Verena Dietl: Sie erinnerte daran, dass München, die reiche Stadt, nur eine Seite der Medaille sei, dass es auf der anderen Seite eben auch große Armut gebe. Immerhin verschließe die Stadt nicht die Augen davor: Vor 30 Jahren war München die erste deutsche Kommune, die einen Armutsbericht vorgelegt habe.
In München leben mehr als 250 000 Menschen unter oder nahe der Armutsrisiko-Grenze. Biss habe mit der monatlich erscheinenden Zeitung nicht nur den Verkäufern und anderen Beschäftigten eine Perspektive gegeben - Armut sei dadurch auf eine neue Art sichtbar geworden. München sei menschlicher geworden. "30 Jahre Biss haben München zum Besseren verändert", schloss Dietl.
Für den Festvortrag hatte sich Biss Heribert Prantl eingeladen, ehemaligen Politikchef der Süddeutschen Zeitung und renommierten Vortragsredner. Wem seine Sympathie an diesem Abend galt, macht er gleich zu Beginn deutlich: "Liebe Freunde der sozialen Gerechtigkeit" hob er an, um dann "im Namen der SZ" die Kollegen von Biss zu grüßen.
Das Folgende war ein assoziationsreicher Ritt durch die abgelegensten Gegenden der sozialen Gesellschaft, über das Wiener "Hobellied", das lüge, wenn es behaupte, das Schicksal hoble alle gleich, über die Aufgaben einer fürsorglichen Gesellschaft, über den Berliner Obdachlosenpfarrer Joachim Ritzkowsky, Franz von Assisi und Erich Kästner ("Es gibt nichts Gutes, außer man tut es") bis zu den Biss-Gründervätern und -müttern wie Jürgen Miksch, Johannes und Hildegard Denninger.
Prantl sprach von der "respektvollen Barmherzigkeit", die dem Armen, dem Obdachlosen seine Würde lasse und nannte als Beispiel dafür das seit einigen Jahren bestehende Biss-Grab am Ostfriedhof, wo bedürftige Menschen nach ihrem Tod eine würdige Ruhestätte finden können, während sie sonst anonym verscharrt worden wären. Er sprach von der Hoffnung, die notwendig sei, um das Bessere zu bewirken: "Hoffnung lässt die Welt nicht zum Teufel gehen."
Großer Applaus auch für Prantl. Danach Ehrung der Preisträger des Biss-Foto-Awards und verdienter Biss-Verkäufer - und dann war endlich wieder Zeit, bei frischen Schnittchen, Kürbissuppe und Kaltgetränken ausführlich über 30 Jahre Biss zu ratschen.