Etwa 30 Zuhörer sitzen im Nebenraum des Cafés Mariandl, aber der Autor, dessen Lesung um 19.30 Uhr beginnen soll, ist nicht da. "Er kommt mit dem Auto aus Berlin und hat ein bisschen Verspätung", sagt der Pressemann des Mariandl um 19.35 Uhr. Um 19.45 Uhr meldet er: "Der Anderl Lechner ist jetzt da, aber er muss noch eine andere Hose anziehen."
Andreas Lechner kommt fünf Minuten später durch die Schwingtür in den Nebenraum, das Umziehen ging schneller als gedacht. Lechner, ein untersetzter Mann von 60 Jahren, geht rasch an einen Tisch, legt sein Buch "Heimatgold" ab und zündet eine Kerze an. Er bittet, das Licht etwas herunterzudimmen, wegen der Atmosphäre. Und er entschuldigt sich für die Verspätung mit einem Witz: "Ab jetz bin i gega des Tempolimit." Lechner spricht Bairisch.
Zum Tod von Veronika Fitz:Wenn schon berühmt werden, dann bitte langsam
Sie spielte an den Kammerspielen, dem Burgtheater und der Schaubühne. Berühmt wurde sie jedoch in der BR-Serie "Die Hausmeisterin". Zum Tode einer Aufrichtigen.
"Ich fange von vorne an", sagt er und meint den Roman. Er liest das Kapitel über die Kindheit des 1894 geborenen Josef Straßberger, seines Großvaters; des Gewichthebers, der 1928 olympisches Gold gewann, um den es im Buch "Heimatgold" geht, und den die Süddeutsche Zeitung einmal den "gwamperten Herkules" nannte. Es ist ein Roman, wohlgemerkt, er erzählt "an historischen Eckpunkten entlang", wie Lechner sagt. Es ist keine Biografie.
Die Bedienung bringt Essen für die Zuhörer. Vom anderen, dem größeren Raum dringt Lärm durch die Schwingtür. Lechner hört auf zu lesen und sagt: "Jetz bin i drauskemma wega dem Schweinsbraten." Er wirkt noch nicht genervt.
Straßberger wächst auf einem Hof in Kolbermoor im Landkreis Rosenheim auf. Der Bub geht auf Jahrmärkte und sieht den Steinlupfern zu. "Mit großen Augen verfolge ich das Geschehen auf der Bretterlbühne", liest Lechner, der die Geschichte aus der Sicht des Großvaters erzählt. Als Straßberger dann vom Steyrer Hans, dem besten Lupfer, ein Porträtfoto mit Signatur erhält, "ist es um mich geschehen". Der Bub richtet sich einen Raum mit Hanteln ein. Dem Vater gefällt das nicht, weil der Sohn nun weniger auf dem Hof hilft. Einmal droht er ihm, "das Hantelzeug wegzunehmen und in der Odelgrube zu versenken".
Wieder kommt die Bedienung mit Essen und Getränken. Es wird lauter. Lechner würde das Essen wohl gerne in einer Odelgrube versenken. "Kennt's ihr des a bisserl anders machen", grantelt er, "das stört mich total." Später wird er sagen, eines seiner Vorbilder, der störrische Helmut Qualtinger, wäre an seiner Stelle wohl aufgestanden und gegangen. Lechner bleibt sitzen und liest weiter, er springt ins Jahr 1928, als Straßberger, mittlerweile Wirt, in Amsterdam die Goldmedaille im Gewichtheben gewinnt. Das wird im Radio übertragen. Lechner spricht jetzt wie ein Reporter, er brüllt, dass die Anstrengung Straßberger "schier zu zerreißen droht". Dann ist es geschafft, Straßberger steht, das Gewicht ist oben. Es ist eine starke Stelle in dieser Lesung, die später, als es um die Nazizeit geht, ein bisschen vor sich hinplätschert: zu wenig Geschichten, zu viel bereits bekannte Zeitgeschichte.
Am nächsten Tag, es ist Samstag, sitzt Lechner im Mariandl vor einem Kaffee. Wer in den Siebziger- und Achtzigerjahren in Bayern erwachsen geworden ist und Alternativen zu CSU und Kirche gesucht hat, kennt diesen Andreas Lechner. Seine Band Guglhupfa , die Biermöslblosn der Brüder Well, die Kabarettisten Zimmerschied und Jonas, Gerhard Polt - das waren für junge Menschen, die nicht konservativ waren, liberale Leuchttürme im schwarzen Bayern. Man nannte diese Kleinkunst- und Volksmusik-Szene auch "bayerischer Widerstand". Der Spiegel schrieb damals über Andreas Franz Josef Lechner: "Diesem Typ ist nichts heilig, nicht mal die weißblauen Klangfarben seiner Heimat. So sind in der bäuerlichen Totenmesse ,Der letzte Milkaner', Lechners erstem musikalischen Abendfüller, die linken Sprüche krachledern verpackt, und wo es klingt wie auf dem Tanzboden der Schützengilde, geht es meuchlings gegen Staat und Kirche."
Andreas Lechner war sozusagen ein zweifacher Ruhestörer: als Musiker und als Kritiker der Herrschenden.
Franz Josef Strauß, der Ministerpräsident, hat die Guglhupfa einmal verklagt, wegen des sogenannten Nesselwang-Liedes. "Ich habe in Gstanzlform gegen ehemalige Mitglieder der Waffen-SS gewettert, die sich 1985 in Nesselwang trafen", sagt Lechner. "Und dem Strauß habe ich zwei Strophen gewidmet, wegen seines NSKK-Hintergrundes." (Strauß war beim Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps gewesen, einer paramilitärischen Unterorganisation der NSDAP, Anm. d. Red.) In diesem Gstanzl kam vor, dass auf dem Sozius von Strauß der Stoiber säße und im Beiwagen der Schönhuber, der dabei Benzin spare. Franz Schönhuber war damals Chef der rechtspopulistischen Republikaner.
Die Klage - die Guglhupfa wurden unter anderem von Otto Schily vereidigt - wurde zunächst wegen Kunstfreiheit abgewiesen und später zurückgezogen. "Die CSU wollte uns wohl nicht noch bekannter machen", sagt Lechner.
Andreas Lechner hatte die gedrungene Figur von Strauß. Das Gesicht sieht ein bisschen aus wie jenes von Rolf Lassgård, dem blonden Wallander-Darsteller aus den Schwedenkrimis von Henning Mankell. Lechner hat einen ähnlichen Zug um die Lippen, einen etwas spöttischen.
Lechner erzählt, er habe eigentlich Förster werden wollen. Aber als er am Arber ein Praktikum machte, merkte er, dass es "nicht um die Jagd ging, sondern um Holzwirtschaft und Bürokratie". Er besann sich auf die Musik, schließlich spielte er bereits Blockflöte und Akkordeon. Lechner studierte am Richard-Strauss-Konservatorium Musiklehrer mit Schwerpunkt Volksmusik; er hatte im Hauptfach Kontrabass und im Nebenfach Hackbrett und Gitarre.
Noch während des Studiums gründete er die Guglhupfa, zusammen mit Karl Well, Rudi und Heini Zapf. Lechner sagt, er habe damals die Texte und Lieder geschrieben, er sei - und jetzt wird der spöttische Zug um den Mund ein selbstgewisser - "der Motor für die Neue Volksmusik gewesen", deren Protagonisten heute Django 3000 oder LaBrassBanda heißen. Lechner ist mit seinen Erben nicht ganz zufrieden. "Da sind die kritischen Inhalte nahezu verschwunden", sagt er. "Es reicht, einen billigen, verbeulten Hut aufzusetzen oder ein Holzfällerhemd anzuziehen und ohne Socken aufzutreten."
Andreas Lechner spielte auch mit Otto Grünmandl oder mit Dieter Hildebrandt, hochpolitische Stücke waren das. Den kolossalen Qualtinger findet er gut, was die Art des Vortrags angeht. "Ich war mal in Passau, da hat Qualtinger Karl Kraus gelesen", sagt Lechner, "mit viel Ruhe und einem wuchtigen Ton, das würde ich gerne auch hinkriegen." Karl Kraus war ein österreichischer Schriftsteller zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Lechner lächelt. Es ist ihm eine Geschichte zu Qualtinger und Kraus eingefallen. Wolfgang Nöth, später Betreiber des Kunstpark Ost, habe sich früher um das Kabarettprogramm im Fraunhofer gekümmert. "Er hat es geschafft, Qualtinger nach München zu holen", sagt Lechner. "Jo eh, na komm i mit'm Karl Kraus", soll Qualtinger gesagt haben - und meinte sein Programm mit Texten von Kraus. Aber Nöth buchte zwei Zimmer im Hotel.
Die Bedienung, es ist eine andere als am Vorabend, kommt mit einem Kännchen Tee an den Tisch. "Das ist ein sehr schönes Kanderl", sagt Lechner, "solche Silberkanderl hatten sie auch im Hotel Münchner Hof." Das war jenes Hotel, das Straßberger in den 1920er-Jahren gepachtet hatte. Lechner schaut sich das Kännchen noch genauer an. "Ja, das ist Silber - das ist ein silbernes Mokkakanderl." Er kenne diese genau, denn er habe auch mal Auktionshandel gemacht. Das sei zu einer Zeit gewesen, als er zwei Filme produziert habe und seine "finanzielle Lage kompliziert war".
Lechner hat viel gemacht, vor, während und vor allem nach seiner Zeit mit den Guglhupfa. Warum gingen sie eigentlich auseinander? "Ich habe andere künstlerische Formate für mich gesucht", sagt Lechner. Filme machen, Theater spielen, mit Josef Bierbichler drehen, Bierbichler bei dessen Lesungen begleiten, mit Bierbichler (und Herbert Achternbusch) in Ambach in einer Wohngemeinschaft leben.
Und eben schreiben.
Lechner hatte bei der Lesung Oskar Maria Graf und Lion Feuchtwanger beiläufig erwähnt, und man meinte beinahe, er stelle sich mit ihnen in eine Reihe. Jetzt nennt er sie wieder und sagt dazu: "Nicht dass ich mich mit ihnen vergleichen will." Aber er erwähnt dann schon noch, er habe das Leben seines Großvaters aufgeschrieben wie Graf das Leben seiner Mutter.
Lechner lebt seit 2012 in Berlin. "Für freie Kreative ist München ohne größere Erbschaft unbezahlbar", sagt er. "Durch den Geldwahn und die Mietproblematik gibt es hier keinen kreativen Sumpf mehr - so wie früher, als die Kabarettisten, Volkssänger und Komödianten über die vielen Kleinkunstbühnen groß geworden sind."
Momentan, sagt Lechner, sei er auf Lesetour und kümmere sich um die Vermarktung seines Buches. Und er mache ein Drehbuch daraus. Vielleicht wird "Heimatgold" ja verfilmt. Es gebe Gespräche, sagt er. Mehr könne er nicht verraten. Aber Menschen wie Cornelia Ackers und Franz Xaver Gernstl vom Bayerischen Rundfunk saßen wohl nicht zufällig im Publikum, als Lechner im Nebenraum des Mariandl aus seinem Buch gelesen hat.