Mitten in Obermenzing:Grenzenlos pflichtbewusst

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Richtiger Name, falsche Adresse: Solche Kümmernisse machen den geplagten Zustellern mitunter das Leben schwer

Glosse von Andrea Schlaier

Sturmläuten an der Haustür, mitten am Tag. Mit allem rechnet man, dem Kind, das mitsamt der Klasse von einer Stunde auf die andere in Quarantäne geschickt worden ist, der Katze, die beim Sprung auf die Briefkastenmauer mal wieder die Klingel als Zwischenstopp genutzt hat, dem Obstbauern aus dem Dachauer Hinterland. Alles falsch. Draußen steht: ein Held in Gelb.

Wütend wedelt der Mensch im dotterhellen Zusteller-Ornat, das Fahrrad zwischen die Beine geklemmt, einen Brief übers Gartentor, kaum dass die Haustür sich einen Spaltbreit geöffnet hat. "Ich weiß schon", ruft einem dieser Mann in den besten Jahren empört entgegen, "der wohnt gar nicht hier. Trotzdem!" So ganz kriegt man aus den Informationen des aufgebrachten Postboten keine logische Reihe hin. Dann, als man vor ihm steht, hält er einem ein Kuvert in weißem Bütten mit schwarzem Rand unter die Nase: "Das ist doch die richtige Adresse, hier wohnen Sie doch!" - "Ja, hier wohne ich."

"Aber der doch nicht!" Sein Finger sticht auf den Namenszug des Adressaten nieder. "Nein, der Herr wohnt nicht in unserem Haus." Forscher Blick: "Ja, wo wohnt der denn dann? Sie sehen doch, das ist ein Trauerbrief und der muss rechtzeitig ankommen! Weiß ich doch nicht, wann die Beerdigung ist!" Der hochadlige Adressat, dessen bemerkenswerten Vornamen man nun also auch kennenlernt, ist in der Straße bekannt. Mit seiner Familie hat er vor Jahren die weitläufige Denkmal-Villa eine Kreuzung weiter gekauft. "Da wohnt er, im Haus mit den dunkelgrünen Fensterläden, sehen Sie?"

Der Postbote nickt. Und überlegt es sich anders. Er schüttelt den Kopf wie ein Mensch, der sich an einer Kampfwespe im Angriffsmodus abarbeitet. "Das geht nicht! An der Kreuzung endet mein Gebiet, auf der anderen Straßenseite bin ich nicht zuständig." Er knüllt sich die Schiebermütze vom Kopf, an wen er das erregte Wort jetzt richtet, ist nicht ganz klar: "Ich bin nicht mehr der Jüngste, das sieht doch jeder. Und nicht gut beinander. Und Zeit hab ich auch keine." Eine Antwort im klassischen Sinne braucht der Mittfünfziger nicht, schon gar kein Angebot, ihm diesen einen Zustellerdienst womöglich... Schon klar, ein Affront.

Der Briefträger zieht sich die Mütze wieder übers keimende Grau auf seinem Haupt, steckt das Kuvert in die große Tasche vor die vielen anderen. "Herrschaftszeiten! Dann schmeiß ich den jetzt auch noch ein." Spricht's und strampelt grußlos auf die andere Seite der Kreuzung.

© SZ vom 24.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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