Lisa Uhrich mag eigentlich keinen Koriander, sie hat es auch nicht so mit Linsen, sagt sie. Am Ende eines Abends im Milbertshofener Mehrgenerationenhaus "Unter den Arkaden" wird sie irakische Linsensuppe löffeln und ganz beseelt sein. Die Erzieherin ist an diesem Tag zum zweiten Mal bei einem Kochevent des Vereins "Über den Tellerrand kochen München", und diesmal ist auch Siraj aus Eritrea mitgekommen.
Siraj ist einer der Flüchtlinge unter den Gästen an diesem Abend. Wer durch die Tür in die große Gemeinschaftsküche tritt, bekommt einen Anstecker mit fünf bunten Kreisen darauf, alle sind durch eine feine weiße Linie miteinander verbunden. Eben über den Tellerrand. Das Projekt wurde 2013 in Berlin gestartet. Die Idee ist einfach: Leute aus der Gegend und Menschen, die dorthin geflüchtet sind, bereiten zusammen landestypische Gerichte zu. Ob afghanisch, äthiopisch, bayerisch oder ostfriesisch: Gekocht wird alles, was schmeckt. Mittlerweile hat die Organisation nach eigenen Angaben mehr als 30 Standorte in ganz Deutschland, dazu eine Handvoll im europäischen Ausland.
Internationale Küche:Wenn Münchner und Flüchtlinge zusammen kochen
Das irakische Gericht Dolma ist nichts für Küchen-Anfänger. Zum Glück geht es bei "Über den Tellerrand kochen München e.V." aber nicht nur ums Essen.
In Milbertshofen schreibt Alexander Seipp an diesem Tag die Vornamen der Gäste auf die bunten Anstecker. Er und seine Frau Jasmin stießen Ende 2015 zu "Über den Tellerrand", als vier junge Frauen das Projekt gerade nach München gebracht hatten. Beide kommen aus Hessen, Jasmin Seipp hat bis zur Einschulung in Buenos Aires und London gelebt, studierte mit ihrem jetzigen Mann in Reutlingen, bevor sie später in die USA gingen und nach Madrid. "Grenzen", sagt Alexander Seipp, "waren für uns nie ein Thema".
Für Mais und Mustafa Schihab Ahmed schon. Das junge Ehepaar aus Bagdad kocht an diesem Abend irakisch, es gibt Dolma, mit Fleisch und Reis gefülltes Gemüse, Linseneintopf und Kanafa, einen süß-buttrigen Nachtisch aus arabischen Fadennudeln und Mozzarella. "Sie ist im achten Monat schwanger nach Deutschland geflüchtet, zu Fuß", sagt Mais' Schwester Marwa und blickt fast vorwurfsvoll zu ihr herüber.
Mais presst die Lippen zusammen und rührt weiter in der flüssigen Butter, Päckchen für Päckchen lässt sie wortlos in die gelbe Suppe hineinplumpsen. Dann blickt sie lächelnd hoch. Die Flucht mit ihrem Mann und der damals vierjährigen Tochter Mariam soll jetzt kein Thema sein. Nicht hier, nicht heute. Celine, die kurz danach in München zur Welt kam, krabbelt jetzt zwischen den Tischen umher geradewegs auf ihre Mutter zu, in der Hand ein Stück Breze.
Mit Alexander und Jasmin Seipp haben Mais und Mustafa vor dem Kochevent im Münchner Bahnhofsviertel eingekauft: Für Omar, Ali und Arif mit seinem 13-jährigen Sohn Muhammad aus Syrien, für Lisa und Siraj, für Flo und Melissa aus München und für Anna-Katharina, die ein bebildertes Wörterbuch unterm Arm trägt. Die 75-Jährige lernt Arabisch. 25 Teilnehmer sind gekommen, das ist das Maximum. "Die Gruppen müssen überschaubar bleiben, damit die Leute sich näher kennenlernen," sagt Jasmin Seipp. Doch es gibt immer mehr Anfragen als Plätze. Ein bis zwei Stunden verbringt Jasmin mittlerweile mit der Organisation für "Über den Tellerrand kochen" - täglich.
Alexander und Jasmin Seipp haben als Vollzeit-Angestellte im Bank- und Finanzwesen eigentlich genug zu tun, aber das ist für sie kein Grund, nichts zu tun, sagen sie. Sie haben viele Unterstützer: Gut zwanzig Leute beteiligen sich abwechselnd und ehrenamtlich an der Organisation der Kochabende, es gibt einen Vereinsauftritt auf der Spendenplattform betterplace.org und bei Facebook, über den die meisten Münchner das Event finden. Wer mitkocht, zahlt danach einen freiwilligen Betrag in die Vereinskasse - ein Schuhkarton mit dem Tellerrand-Logo. Ob Geflüchteter oder Münchner, das macht dabei keinen Unterschied. Dass einer immer der Bittsteller, der andere der Unterstützer sein muss: Dagegen stellt sich "Über den Tellerrand kochen".
Als die Flüchtlinge kamen, gaben Jasmin und Alexander Seipp in der Erstaufnahmeeinrichtung in Keferloh Essen und Kleidung aus. Dann erzählten ihnen Freunde von dem Berliner Projekt. "Wir wollten etwas auf die Beine stellen, das mehr als nur uns selbst betrifft und uns selbst nützt", sagt Seipp und sieht sich um. An den hufeisenförmig gestellten Tischen der Gemeinschaftsküche sitzen Leute zusammen und höhlen Zucchini und Auberginen aus, sie mischen Reis und Fleisch oder schichten hauchdünne Teigfladen über zerbröselte Pistazien. Es wird gelacht und fotografiert, Leute wechseln von ihrem Tisch zum nächsten wie auf einer Stehparty.
Aus zwanglosen Kochtipps entstehen Freundschaften
"Über den Tellerrand kochen" sei weder an eine politische noch an eine religiöse Orientierung gebunden, sagt Seipp, aber: "Den Facebook-Auftritt haben wir gezielt gewählt, um Reichweite zu schaffen und eine Botschaft in die Gesellschaft zu tragen." Klingt nach etwas Großem. Alexander Seipp lacht. Wer hierher kommt, will eben kochen und essen. Aber vielleicht wird er auch neugierig. Wie der 32-jährige Kontrolltechniker Flo, der "mal selbst was von den Flüchtlingen hören will, nicht nur über die Medien". Oder Lisa Uhrich, die Erzieherin, die sich mit Linsen angefreundet hat und mit Siraj, dem Eritreer, den sie vorher nur aus einem Helferkreis kannte.
Etwas ganz Großes, das ist "Über den Tellerrand kochen" für Rozat Wazeru. Der 32-Jährige ist seit 2011 in Deutschland und holt in einem Atelier im Glockenbachviertel seine Schneiderlehre nach. Die syrische wurde ihm nicht anerkannt. Also ändert er Dirndl. Rozat trägt Jeans, Turnschuhe und ein enges schwarzes Langarmshirt, dazu eine modische Brille mit dunklem Rahmen und Dreitagebart. Sein Traum: Eine eigene Kollektion, genäht von Geflüchteten und Münchnern. Die Entwürfe hat er schon fertig: Dirndl und Hochzeitsmode aus kurdischen Stoffen. Fürs Erste bleibt er aber beim Kochen: An der Volkshochschule leitet Rozat Wazeru syrische Kochkurse, im Team von "Über den Tellerrand kochen" ist er festes Mitglied.
In Berlin geht das Konzept schon auf: Wer am Anfang nur zusammen gekocht hat, trifft sich heute zum Gärtnern und Imkern, lernt die Sprache des anderen oder hilft ihm beim Umzug. Nach knapp anderthalb Jahren "Über den Tellerrand kochen" in München stellt auch Jasmin Seipp fest, dass sich Freundschaften bilden, Leute sich auf Events wiedertreffen. "Die interessieren sich füreinander, auch wenn es nicht mehr um ein Kochrezept geht", sagt sie. "Wir liefern nur die Zutaten."