Ausstellung:Ende des Dornröschenschlafs

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Michael Beck, der neue Vorsitzende der Olaf-Gulbransson-Gesellschaft, will mehr Besucher in das kleine Tegernseer Museum locken. Er setzt auf große Namen und zeigt derzeit Marc Chagall.

Von Sabine Reithmaier, Tegernsee

Was hat Marc Chagall mit Olaf Gulbransson gemeinsam? Nichts, sagt Michael Beck, eine Beziehung zwischen den beiden gebe es nicht. "Außer dass beide tolle Künstler sind." Warum stellt er dann den französisch-russischen Maler im Museum des Simplicissimus-Zeichners am Tegernsee aus? "Um hier mehr Besucher reinzulocken. Chagall ist ein Name, der zieht."

Das tut er tatsächlich. Mehr als 14 000 Besucher haben die Ausstellung, in deren Mittelpunkt die prächtigen 42 Blätter des "Daphnis & Chloé"-Zyklus stehen, schon gesehen. Daher fühlt sich Beck, im November 2020 zum neuen Vorsitzenden der Olaf-Gulbransson-Gesellschaft gewählt, sehr bestätigt in seinem Ansatz, die bisherige Begrenzung des kleinen Museums auf Zeichnung und Karikatur aufzugeben und berühmte Namen zu zeigen. "Dass das funktionieren könnte, habe ich schon kapiert, als ich hier vor zwei Jahren ,Beck trifft Nolde' machte", sagt er. Die Schau war mit 6500 Gästen die bis dahin erfolgreichste aller Ausstellungen des Hauses. Chagall toppt das aber locker. "Wir hatten Schlangen vor dem Museum", sagt Beck, im Hauptberuf Galerist in Düsseldorf, und schwärmt davon, wie toll er es findet, in Tegernsee etwas zu gestalten.

Einen ganz privaten Bezug zu Chagall findet er aber dann doch noch. Über seinem Kinderbett hing jahrelang dessen Lithografie "Quai de Bercy" mit einer schwebenden Frauengestalt, von der er sich beschützt fühlte. Zum Glück für das Museum stand dieses Bett in Tegernsee. Beck wurde hier 1963 geboren als Sohn des Malers Herbert Beck (1920 - 2010), einem Verehrer Noldes und selbst hoch angesehen wegen seiner Aquarelle. 1948 war der Vater von Leipzig an den Tegernsee geflüchtet. Ein Jahr später gründete er mit Gulbransson und zwei anderen Künstlern die Tegernseer Kunstausstellung. Inzwischen ist eine Parkanlage nach ihm benannt.

Seit November 2020 ist Michael Beck der neue Vorsitzende der Olaf-Gulbransson-Gesellschaft. (Foto: Michael Dannenmann / Beck & Eggeling International Fine Art)

Der Sohn verließ den Ort in jungen Jahren, um sich in einer Dortmunder Galerie zum Kunsthändler ausbilden zu lassen. Nach zwei Jahren als Assistent in einer Münchner Galerie studierte er Kunstgeschichte am Christie's Education, dem Institut des Auktionshauses in London, kehrte nach Dortmund zurück und entschied sich 1994 für den Sprung in die Selbständigkeit, erst in Leipzig, dann in Düsseldorf mit zeitweiligen Dependancen in New York und Wien.

Sein Netzwerk nach 27 Jahren als Galerist ist riesig. Anders als seine Vorgänger ist Beck entschlossen, in seinem Ehrenamt aktiv als Kurator zu wirken und das Museum, eine Zweiggalerie der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, aufzumöbeln. Letzteres ist durchaus wörtlich zu verstehen. Beck hat in den schwierig zu bespielenden unterirdischen Räumen des Hauses sofort das Labyrinth an Stellwänden beseitigt, einen großen Saal geschaffen und Sitzbänke aufgestellt.

"Ich zapfe befreundete Sammler an"

Unkompliziert beschreibt er auch seine Arbeitsweise: "Ich zapfe befreundete Sammler an, denen ich Bilder verkauft habe oder von denen ich weiß, dass sie Arbeiten besitzen." Das Vorgehen bescherte dem Museum neben dem Farblithografie-Zyklus noch weitere 20 Arbeiten Chagalls, durchweg Bilder, die, weil im Privatbesitz, bislang kaum oder gar nicht ausgestellt worden sind. Darunter ein beeindruckendes Ölgemälde aus der Sammlung von Hubert Burda. Sein Vater Franz hatte das "Brautpaar mit Hahn" direkt beim Künstler in Saint-Paul de Vence gekauft. Acht Jahre, von 1939 bis 1947, hat Chagall an dem Bild gearbeitet. Das Federkleid des Hahns ist flammend rot, die Miene der Braut entsetzt, die winzige, maskierte Gestalt vor den Häusern wirkt bedrohlich. Chagall, verfolgt als entarteter und zudem jüdischer Künstler, hat vieles in diese Arbeit gepackt. 1941 schaffte er in letzter Sekunde dank einer Einladung des Museum of Modern Art den Absprung in die USA. Dort im Exil starb seine heißgeliebte erste Frau Bella; er kehrte 1947 nach Frankreich zurück.

Ein anderes großes Ölgemälde mit dem Titel "Über den Blumen" galt bis zur Tegernseer Ausstellung nach Angaben Becks sogar als verschollen. Die Erben hatten es in einem Depot eingelagert. "Der Mann rief mich an, als er von der Ausstellung hörte, und brachte das Bild vorbei."

Eine Entdeckung auch das Skizzenbuch, das verdeutlicht, wie erschüttert Chagall über die Tragödien in Europa und vor allem in seiner Heimatstadt Witebsek gewesen sein muss. Das Büchlein setzt 1938 ein, enthält neben Zeichnungen auch kurze Texteintragungen und reicht in die Jahre des Exils hinein. Idyllisches ist darin nicht zu finden. Doch es ist bemerkenswert zu beobachten, wie Chagall eine einzige Skizze als Vorlage für eine ganze Serie von großen Gemälden zum Thema Krieg und Kreuzigung nutzte. Leider sind der Großteil der Zeichnungen nur im Katalog zu sehen.

Apropos Katalog: Beck hat früh einen eigenen Kunstverlag gegründet und inzwischen mehr als 160 Bücher verlegt; der eigens für die Ausstellung konzipierte dicke Chagall-Band ist nur eines davon. Vom Skizzenbuch wusste der Galerist übrigens, weil er es drei Jahre zuvor an eine Privatsammlung verkauft hatte. Und vom 1961 erschienenen "Daphnis & Chloé"-Zyklus, einem Hauptwerk der Chagallschen Buchillustrationen, präsentiert Beck keines der 250 nummerierten Exemplare, sondern eine der 20 Vorzugsausgaben, nämlich jene, die der Künstler seinem Drucker Charles Sorlier widmete.

Dass die Ausstellung nicht auf einem zwingenden Konzept basiert, ist Beck bewusst, stört ihn aber nicht. "Ich habe das zusammengetragen, was ich zusammentragen konnte." Hauptsache, die Besucher kommen. "Und wer Chagall anschaut, geht auch in die Dauerausstellung." Für das nächste Jahr plant er den nächsten Blockbuster mit dem Titel "Mit Leidenschaft gesammelt: Werke aus Privatbesitz von Renoir bis Jawlensky". Lauter Einzelwerke der klassischen Moderne: Beckmann, Marc, Münter, Kandinsky, Modersohn-Becker - die Zusagen der Leihgeber hat er schon. 2023 sollen der Hausherr "and friends" anlässlich seines 150. Geburtstags im Mittelpunkt stehen. Wobei es Beck völlig falsch findet, Gulbransson zu sehr in die Simplicissimus-Ecke zu drängen.

2024 ist dann Ernst Ludwig Kirchner dran. Und irgendwann auch August Macke. Der hat schließlich ein Jahr lang in Tegernsee gelebt.

Marc Chagall: Eine Liebesgeschichte. Daphnis & Chlo é und andere Werke. Bis 9. Januar, Di-So, 10-17 Uhr, Olaf-Gulbransson-Museum Tegernsee. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen (29,90 Euro).

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