"Das ist schön":Sehnsucht nach Gemeinschaft

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Wie es sich anfühlt, in einem offenen Lesekreis über ein Buch zu reden, das noch gar nicht erschienen ist.

Kolumne von Antje Weber

Was ist das für ein Buch? Ist es ein Liebes- oder ein Entwicklungsroman, erzählt es eine Migrations- oder Postmigrationsgeschichte, ähnelt es gar einer Babuschka-Figur? Es gibt viele Etikettierungen, die man für Martin Kordićs zweiten Roman "Jahre mit Martha" (S. Fischer) wählen könnte. Der Roman des in München lebenden Schriftstellers und Lektors ist noch gar nicht erschienen, erst Ende August wird er in den Buchhandlungen liegen. Und doch diskutierten in dieser Woche 20 Leserinnen im Literaturhaus lebhaft über seinen Inhalt, von Anfang bis Ende.

Das Literaturhaus München, in diesem Sommer 25 Jahre alt, hat sich einen etwas anderen Dreh ausgedacht, um sein Jubiläum zu feiern - in die Zukunft gerichtet, und in den Zuschauerraum. Die Leser und Leserinnen, die sonst die Saalreihen füllen und meist still lauschen, wollte man kennenlernen und selbst zu Wort kommen lassen. An drei Abenden konnten sie im Juli bei offenen Lesekreisen über Romane sprechen, die erst in den nächsten Wochen erscheinen werden - über Édouard Louis' "Anleitung ein anderer zu werden", über Dörte Hansens "Zur See", und eben über Kordićs "Jahre mit Martha" (die Teilnehmer hatten sich bereits vorab in ihre Leseexemplare vertiefen dürfen). Nach dem Besuch des letzten Abends lässt sich festhalten: Da ist eine Sehnsucht - und sie ist nicht nur im Buch zu spüren, sondern auch bei den Leserinnen. (Ach, dass nur Frauen gekommen waren, was soll es uns wieder einmal sagen?)

Es ist die Sehnsucht, über die Bücher, die man liest, auch zu reden - und womöglich nicht nur digital in Tiktok-Buchclubs, sondern von Angesicht zu Angesicht. Nicht jeder Lesekreis, von denen es in Stadt und Land ja so einige gibt (auch das Literaturhaus pflegt einen speziell für Förderer), hat die Pandemie überstanden. Nur im Gespräch jedoch werden Bücher "lebendig", wie Katrin Lange sagt, die an diesem Abend die Runde leitet. Und über einen Roman wie den von Kordić lässt sich ausgiebig diskutieren - über die Liebesbeziehung eines Jugendlichen mit dem hinderlichen Namen Željko Draženko Kovačević zu einer älteren Professorin, über das Wohlstandsgefälle in Deutschland, über Wut und Angst. Das Interessanteste dabei, immer wieder: wie sehr sich die Lesarten unterscheiden. Jeder Mensch bringt eben eine eigene Welt mit und ein; jeder Zugang zu einem Buch ist von spezifischen Prägungen und Erwartungen gesteuert.

Bei allen Differenzen, manchem Kopfschütteln gar: Solche Abende, ob im privaten oder öffentlichen Raum, sind gute Übungen darin, unterschiedlichste Meinungen auszuhalten und sich vielleicht doch sachte anzunähern. Und natürlich überhaupt Gelegenheiten, um insbesondere in schwierigen Zeiten den Wunsch vieler nach Austausch, nach Gemeinschaft zu erfüllen. Das passt übrigens zum Buch von Kordić, das - und nein, das ist bei einem so vielschichtigen Roman kein Spoiler - unter anderem mit der Beschwörung einer vielstimmigen Gemeinschaft endet, in der alle zusammensitzen "und essen und reden und lachen". Schön.

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