Gegen Lebensmittelverschwendung:"Essen gehört auf den Teller und nicht in die Tonne"

Lesezeit: 4 Min.

Leonhard Dünninger ist städtischer Beamter und macht Führungen durch die Großmarkthalle. (Foto: Stephan Rumpf)

Leonhard Dünninger hat erst bei der Müllabfuhr gearbeitet und ist nun in der Großmarkthalle. Weil er weiß, wie viel weggeworfen wird, setzt er sich seit zehn Jahren für Foodsharing ein. Gerettet hat er schon Umzugskartons voller Schoko-Nikoläuse.

Von Stefanie Witterauf

Draußen geht die Sonne auf, drinnen stapeln sich Pfifferlinge, Feigen, Erdbeeren. Menschen ratschen, lachen, rauchen. Doch der große Trubel, der Umschlag von Obst und Gemüse im Münchner Bauch, wie die Großmarkthalle oft genannt wird, ist schon weitestgehend vorbei. Es ist sieben Uhr morgens, bald Feierabend für die Händlerinnen und Händler. Für Leonhard Dünninger fängt der Tag erst an.

Als Beauftragter für Sonderprojekte der Großmarkthalle führt der 56-Jährige ein bis drei Mal pro Woche Interessierte, die sich über die Website der Stadt anmelden können, über das Gelände. Auch internationale Fachbesucher, denn der Markt ist mit dem in Barcelona und Paris einer der größten kommunalen Lebensmittelmärkte in Europa. Dünninger ist Beamter bei der Stadt. "Doch meine Berufung ist die Rettung von Lebensmitteln", sagt er. Er hat schon Brathähnchen von der Wiesn im dreistelligen Bereich vor der Tonne bewahrt oder ganze Umzugkartons gefüllt mit Schoko-Nikoläusen. Dünninger holt die Lebensmittel ab, bevor sie im Abfalleimer landen - das ist etwas anders als "Containern".

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Dünninger hat einen Mittelscheitel wie damals Nick Carter bei den Backstreet Boys, graumelierte Haare wie George Clooney und markante schwarze Augenbrauen. Er schreitet durch die Halle, an den Granatäpfeln vorbei, und referiert: "Eröffnet wurde die Großmarkthalle 1912." Vorbei an Kisten gefüllt mit Ananas. Die Stadt München sei erstmals im 12. Jahrhundert als Markt erwähnt worden. Bei den Mangos bleibt er kurz stehen. Eingeflogen worden seien sie wohl aus Indien, vermutet Dünninger. "Sie werden angebaut, geerntet, verschickt und verkauft." Er deutet auf die Äpfel. "Die kommen aus Südtirol, dem Alten Land oder Neuseeland." Dabei breitet er die Arme aus und streckt sie weit auseinander. "Zitronen aus Italien", sagt Dünninger. "Hunderte Kilometer haben sie zurückgelegt, um hier im Müll zu landen."

Laut dem Statistischen Bundesamt werden in Deutschland jährlich etwa elf Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen. In München sind es etwa 168 Tonnen Lebensmittel täglich - von denen 60 Tonnen noch genießbar wären. "Wenn nur eine von fünf Zitronen in einem Netz schimmelt oder zerdrückt ist, werden oft einfach alle entsorgt", tadelt Dünninger. Dabei seien die anderen Zitrusfrüchte vollkommen intakt.

"Ich bin so jung, dass ich in meinem Leben nie hungern musste." Anders sei das bei seiner Mutter gewesen, die den Zweiten Weltkrieg miterlebte und von den Jahren berichtet, in denen die Brotscheiben abgezählt worden sind, weil sie nicht für alle zum Sattwerden reichten. Mit den erzählten Erinnerungen an ständigen Hunger ist er aufgewachsen. "Alles hat einen Preis, aber viele Sachen haben keinen Wert mehr. Oder werden nicht mehr wertgeschätzt", sagt Dünninger.

"Meine Karriere hat sich immer um Lebensmittel gedreht. Bei der Stadt fing es mit Papier und Bleistift in der Direktion der Großmarkthalle an", erzählt Dünninger. Dort kalkulierte er die Wochenmarkt-Entgelte und veranstaltete Events wie das Promi-Wiegen auf dem Viktualienmarkt. Von 1974 bis 2010 wurden da, immer am Donnerstag nach Oktoberfest-Ende, öffentlich Münchner Promis wie Uschi Glas oder Michaela May bei einem großen Spektakel auf die Waage gesetzt und mit Lebensmitteln aufgewogen, die dann an die Münchner Tafel gespendet wurden. 1994, in dem Jahr als Ottfried Fischer gewogen wurde, wechselte Dünninger zur Abfallwirtschaft, leitet den städtischen Containerdienst. "Dort habe ich ein Gefühl dafür bekommen, welche Mengen Lebensmittel weggeworfen werden." Dieser Job hat Dünninger zum Lebensmittelretter gemacht.

Auf Facebook folgte er einer Seite, die Körbe mit übriggebliebenem Essen verschenkt hat. "Kuchen und Sekt von Geburtstagsfeiern oder Hochzeiten", zählt Dünninger auf. "Oder Zwetschgen aus dem Schrebergarten, die man selbst nicht alle verarbeiten kann." Immer häufiger rettete er Essen. Seit zehn Jahren ist er als Mitglied beim Verein "Foodsharing München" aktiv. Entstanden ist der durch eine Initiative von Günes Seyfarth, er rettet mittlerweile jeden Tag in München etwa 700 Kilogramm Lebensmittel aus Bäckereien und Supermärkten davor, in der Tonne zu landen. Der Verein organisiert auch Info-Veranstaltungen, etwa für Schülerinnen und Schüler. Bei denen erzählt Dünninger beispielsweise, wie die jeweiligen Lebensmittel richtig gelagert werden. "Gemüse muss in die unteren Schubladen in den Kühlschrank. Tomaten gehören da nie rein, da macht man sie und ihren Geschmack kaputt." Es gibt gemeinsame Aktionen, bei denen Chutney oder Marmelade gekocht wird oder Plätzchen aus geretteten Lebensmitteln gebacken werden.

"Natürlich spare ich Geld, aber das ist nicht meine Hauptmotivation."

Von einem großen Supermarkt in Laim hat Dünninger diese Woche zwanzig Gläser Tomatensoße, zwanzig Tafeln Schokolade, Kartoffeln, Äpfel, Radieschen und Gurken abgeholt. Auf die herkömmliche Art kauft er kaum mehr ein. Beim Bäcker holt er Semmeln, Brot und süße Teilchen, die nicht mehr verkauft werden können, bringt sie seinen beiden Mitbewohnern mit oder verteilt sie an seine Kolleginnen und Kollegen in der Großmarkthalle. Durch die Foodsharing-Website kommen auch Münchnerinnen und Münchner zu ihm nach Hause, um etwas abzuholen. "Natürlich spare ich Geld", meint Dünninger, "aber das ist nicht meine Hauptmotivation."

Er fährt Rad anstatt Auto. Sein Haus hat er zur Wohngemeinschaft gemacht, weil er nicht so viel Wohnraum für sich alleine braucht. Es soll ein Umdenken passieren, weniger produziert werden, damit weniger verschwendet wird, findet er. Längst ist das Lebensmittelretten eine internationale Bewegung geworden. "Ich freue mich, wenn ich was abhole und es nicht weggeschmissen wird. Und wenn ich es bedingungslos weiterverschenken kann", sagt Dünninger, der sich selbst nicht als typischen Lebensmittelretter bezeichnet. "Foodsharing ist jung, weiblich und akademisch."

"Es geht bei Foodsharing nicht darum, seinen eigenen Kühlschrank möglichst billig zu befüllen", sagt Dünninger. (Foto: Stephan Rumpf)

Er selbst ist weder das eine, noch das andere. Studiert hat der 56-Jährige an der Hochschule für den öffentlichen Dienst in Hof. Fragt man nach seiner Ausbildung, schlägt Dünninger einen so weiten Bogen, dass er sich selbst darin verläuft und statt bei seinen zwei Semestern Englisch und Geschichte auf Lehramt, die er vor der Beamtenlaufbahn an der LMU studierte, bei einer Dramenanalyse von Shakespeares "Romeo und Julia" landet. Dabei rennt er durch die Sätze, ist kaum zu stoppen, wenn er mal losgelegt hat, zieht er seine Erzählung durch. Man merkt: Dünninger ist ein Geschichtenerzähler. Während er sie erzählt, wechselt er immer wieder vom Münchnerischen ins Beamtendeutsch. Seine Haltung ist klar: "Ich finde einfach: Essen gehört auf den Teller und nicht in die Tonne."

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