Kaum vorstellbar, dass es eine Situation im Leben gibt, der Günes Seyfarth nicht mit einem strahlenden Lächeln begegnet. Wo andere jammern, löst sie Probleme. Fehlende Kita-Plätze, benachteiligte Frauen, soziale Ungerechtigkeit oder Konsumverschwendung? Wenn sie etwas stört, dann wird sie aktiv. Die dreifache Mutter scheint über grenzenlose Energien zu verfügen. "Günes bedeutet auf Türkisch Sonne", sagt sie und lacht schon wieder, "vielleicht habe ich das positive Denken in die Wiege gelegt bekommen".
In dieser Woche steht Günes Seyfarth, 39, jeden Tag an einem anderen Platz in München und verteilt in einem Foodtruck "gerettete" Nahrungsmittel. Dabei klärt sie die Besucher über die enorme Verschwendung auf, die der moderne Lebensstil mit sich bringt. "168 Tonnen Lebensmittel werfen, statistisch gesehen, die Münchner täglich in den Müll", berichtet sie, "und zwar gute, genießbare Lebensmittel." Sie formt ihre Hände zu einer Kugel, "das ist die Menge eines Apfels für jeden einzelnen, jeden Tag." Nicht eingerechnet seien in dieser Zahl die Abfälle aus Supermärkten oder Restaurantküchen.
Essen im Müll:So reagieren Supermärkte auf Lebensmittelverschwendung
Die einen schmeißen ihr Obst wegen kleiner Druckstellen weg, die anderen hungern: Gegen das übermäßige Wegwerfen lassen sich immer mehr Firmen etwas einfallen.
Günes Seyfarth hat das schon lange aufgeregt. Als sie von der Aktion Foodsharing hörte, die sich vor Jahren in Köln gegründet hatte, beschloss sie, auch in München eine solche Initiative zu gründen. Seit fünf Jahren "rettet" sie zusammen mit anderen nun Lebensmittel - und ernährt ihre eigene Familie weitgehend damit. Mehrmals die Woche fährt sie durch die Stadt und sammelt Kisten mit übrigem Brot, Obst, Gemüse, Wurst oder was auch immer gespendet wird, ein.
Das Smartphone ständig im Blick - gerade wartet sie noch auf eine Lieferung Käse für den Foodtruck - erzählt die Münchnerin, wie das Essen-Retten funktioniert. Die Foodsaver gehen zu Supermärkten, Bäckereien oder Restaurants, mit denen der Verein eine Vereinbarung getroffen hat, und holen übrig gebliebene Lebensmittel ab. Sie lagern sie im eigenen Kühlschrank, und wer sich online angemeldet hat, kann sich davon etwas holen. Mehr als 120 Münchner Betriebe - vom Viktualienmarkt übers Tollwood-Festival bis zu kleinen Bäckereien - machen inzwischen mit, sagt Seyfarth, und es werden immer mehr. "Wir haben auch ein Notfallteam. Wenn ein Caterer spontan anruft, dass er 100 belegte Semmeln übrig hat, dann holen wir die ab", erzählt sie.
Nicht jeder kann einfach Foodsaver werden. Wer mitmachen will, muss sich anmelden, wird über Lebensmittelhygiene und geschlossene Kühlketten aufgeklärt, muss einen Test absolvieren, haftet für die Güte der Nahrungsmittel und erhält einen Ausweis.
Stadtkinder haben keinen Bezug zur Nahrung
Während das sogenannte Containern nicht erlaubt ist, weil sich die Sammler meist ohne Genehmigung aus den Mülleimern der Märkte bedienen, kommen die Foodsaver nur zu Betrieben, die sie unterstützen. Den gemeinnützigen Tafeln lassen sie Vortritt, doch die nähmen meist nur große Mengen ab, sagt Seyfarth. "Wir nehmen alles mit, was noch genießbar ist." Sie selbst ernähre ihre Familie fast nur noch mit geretteten Lebensmitteln, "und schauen Sie mich an: gesund und munter". Einen Wochenendeinkauf habe sie schon lange nicht mehr gemacht, es sei ja immer genug zu essen zu Hause. Anfangs habe sie so viele Dinge geholt, "dass ich ganz rote Hände hatte, weil ich nächtelang Tomaten und Paprika eingekocht habe".
Das Selberessen ist das eine, das Verteilen das andere. Aber es geht um mehr: "Wir müssen wieder sehen, riechen und schmecken lernen, so wie es unsere Großeltern getan haben", sagt Seyfarth, "selbst erkennen, was gut und schlecht ist, und uns nicht einfach auf einen Verpackungsstempel verlassen." Die Großeltern hätten kaum je etwas weggeworfen. Gerade Stadtkinder hätten heute aber keinerlei Bezug mehr zu gesunder Nahrung. "Sie wissen nicht, wo die Milch, das Brot, die Äpfel herkommen, oder was zu welcher Jahreszeit wächst." Stattdessen werde das Klima angeheizt, weil Erdbeeren und Mango rund ums Jahr im Regal liegen, Äpfel im Winter aus Neuseeland eingeflogen werden und Fleisch durch ganz Europa gekarrt wird, bevor es im Kühlregal landet.
Den Foodsavern geht es also vor allem um Aufklärung, sie gehen in Schulen und auf Festivals wie Streetlife, um das Bewusstsein für gesunde Ernährung zu schärfen. "Es ist doch verrückt, dass man keinen Joghurt verkaufen darf, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, aber Gemüse von Glyphosat-verseuchten Feldern und Brot mit Geschmacksverstärkern oder Getränke mit so viel Zucker, dass sie krank machen." Nicht umsonst nehmen Volkskrankheiten wie Diabetes zu.
Ihre eigenen drei Kinder kennen nichts anderes, sagt die Münchnerin, als zu essen, was die Mama von ihren Foodsaving-Aktionen mitbringt. Ebenso sind sie daran gewöhnt, dass es die Weihnachtsgeschenkke erst am 25. Dezember gibt, denn an Heilig Abend ist Günes Seyfarth beschäftigt. Dann kocht sie zusammen mit Helfern in der Maria-Hilf-Kirche für Bedürftige, und ihre Familie ist selbstverständlich dabei. "Das ist wunderbar, man lernt Menschen und Geschichten aus dem eigenen Stadtviertel kennen, die man sonst nie erleben würde", erzählt sie, und: "Alles, was man gibt, bekommt man hundertfach zurück."
Kita gegründet, Mamikreisel ins Leben gerufen
Als sie noch fest angestellt war und keinen Krippenplatz gefunden hatte, gründete sie kurzerhand selbst eine Kita, inzwischen erweitert um Kindergarten und Hort. Als sie dann Kinderkleider übrig hatte, rief sie die Online-Tauschbörse "Mamikreisel" ins Leben. Anfangs, gibt sie zu, waren auch im Hause Seyfarth die Familienaufgaben noch recht einseitig verteilt. Doch inzwischen sind beide Eltern selbständig - ihr Mann ist Fotograf - "und seither teilen wir uns alle Pflichten völlig gleichberechtigt". Es sei eben alles eine Frage des Wollens und der Übung, sagt sie.
Seyfarths jüngstes Projekt ist McGyvers, eine Beratungsagentur für Gründerinnen. Und dann ist sie auch noch im Unterstützerteam der ersten deutschen Astronautin, zuständig für Sponsoring und Networking. 50 Millionen Euro kostet die Mission, aufzutreiben von privaten Förderern. "Das schaffen wir", sagt Günes Seyfarth, "sie wird spätestens in zwei Jahren fliegen."
An Träume glauben, das hat die Unternehmerin von klein auf gelernt. Ihre Eltern kamen einst als Gastarbeiter aus der Türkei nach Nürnberg. "Weil sie mit dem politischen System in ihrer Heimat nicht einverstanden waren, empfanden sie von Anfang an eine gewisse Dankbarkeit gegenüber Deutschland", erzählt Seyfarth, "dem Land, das Frieden und Sicherheit garantierte." Nutze deine Chancen, diese Haltung hätten sie der Tochter mitgegeben, und: "Das Wichtigste ist doch, dass Kinder ohne Ängste und Vorurteile aufwachsen."
Ihr Bruder hat das Down-Syndrom, erzählt sie dann noch. "Er hat mich bedingungslos geliebt. So etwas erlebt nicht jeder, dieses Gefühl von Akzeptanz und Wertschätzung. Ich bin sicher, dass mich das stark gemacht hat." Das Handy piept. Der Käse kommt. Sie muss jetzt weiter, Paletten stapeln, Flyer organisieren, Kinder versorgen, Meetings vorbereiten.