Lebenserinnerungen:Wie wird man 108? Ein Treffen mit der ältesten Münchnerin

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Ein Gespräch mit Ilse von Guttenberg über ihre Kindheit im Kaiserreich, Nächte in seltsamen Berliner Tanzlokalen - und das Geheimnis ihres Alters.

Von Lisa Settari

Als Ilse Edle von Guttenberg am 16. Januar 1909 in Wien geboren wurde, kamen auf Gipfeltreffen noch Kaiser Wilhelm II., Franz Joseph I. und Zar Nikolaus II. zusammen. Die Titanic wurde gerade gebaut. Henri Rousseau malte sein Bild "Dschungel am Äquator", Filippo Tommaso Marinetti veröffentlichte sein futuristisches Manifest. 108 Jahre später, empfängt Ilse von Guttenberg auf der Terrasse des Caritas Hauses St. Nikolaus, im cremefarbenen Kleid mit grünen Kästchen, mit einem Schal im gleichen Blau wie das Familienwappen auf dem Siegelring.

Die alte Dame erfährt erst zu Beginn des Gesprächs, dass sie tatsächlich die älteste Münchnerin ist. Ihr Geheimnis? Sie habe gesund gelebt, alles gegessen und "Sport war mir immer wichtig", erzählt sie. Vielleicht hätten auch die Gene eine Rolle gespielt, denn auch einige Verwandte haben ein stolzes Alter erreicht. Als sie in jungen Jahren eine leichte Kurzsichtigkeit bemerkte, prophezeite ihr der Großvater, dass diese mit dem Alter vergehen würde. Heute liest sie ohne Brille. Nicht die SZ, die sei so dick, sagt sie, "da hat man keine Zeit mehr für Bücher." Ihr Lieblingsbuch ist "Du bist nicht wie andere Mütter" von Angelika Schrobsdorff.

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In einigen Industrieländern könnten Menschen in Zukunft eine so hohe durchschnittliche Lebenserwartung erreichen. Auch die Deutschen werden älter - und die Kluft zwischen Männern und Frauen schrumpft.

Die Guttenbergs wurden zur Zeit Maria Theresias in den Adelsstand erhoben. Aber der Titel sei ihr "eigentlich ziemlich egal", sagt Ilse von Guttenberg. Sie wuchs im gutbürgerlichen Umfeld auf, und hat auch - für Adelssprösslinge ungewöhnlich - nur einen Vornamen. Ihr Großvater war Augenarzt, der Vater Botaniker, die Mutter Sängerin und die Stiefmutter Bildhauerin.

Ihre Gedächtnis ist wach, sogar auf die Frage nach ihrer frühestens Erinnerung hat sie eine spontane Antwort: "Da war ich ganz klein, vielleicht drei Jahre alt, und ich durfte an dem Tag ins Elternbett. Ich wurde übermütig und habe meine Mutter in die Nase gebissen, und mir so meine erste Ohrfeige eingefangen. Da war ich natürlich sehr beleidigt, ich wollte ja nur meine Zuneigung zeigen."

Einige Jahre lebte Ilse von Guttenberg als Kind bei den Großeltern. Vor allem ihren Großvater liebte sie abgöttisch: "Als der gestorben ist, da war ich ganz weg." Der Großvater brachte ihr das Schlittschuhlaufen - sie zeigt mit einer Armbewegung, wie er sie dabei festhielt - und das Schwimmen bei. Sonntags gingen sie in den Wiener Wald oder ins Museum. Und als sie sieben Jahre alt war, das weiß sie noch ganz genau, da schaute sie von ihrem Fenster in der Skodagasse aus dem Trauerzug für Kaiser Franz Joseph zu.

Sie wollte sogar Gymnastiklehrerin werden

Mit 14 Jahren kam Ilse von Guttenberg dann auf ein Internat in schwäbischen Burtenbach, wo es viel strenger zuging als zuhause. Das Heim wurde von einem Geistlichen geführt. Ihre Meinung "über den Herren" war ein Grund, warum sie später aus der Kirche austrat. Aber immerhin, so erzählt sie, ist es ihr damals gelungen, das Völkerballspiel während der Pausen einzuführen, "sogar die Lehrerinnen waren davon begeistert". Sport war eben schon immer allgegenwärtig in ihrem langen Leben. Sie wollte sogar Gymnastiklehrerin werden. Das schien dem Vater allerdings keine sichere Zukunft für ein Mädchen. Also zog sie ins Berlin der Goldenen Zwanzigerjahre, absolvierte eine Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin und arbeitete bei Professor Oskar Vogt, der unter anderem Lenins Gehirn seziert hat.

Der Job war zwar nicht ihre Leidenschaft, sagt sie, aber das Leben in Berlin war ein großes Vergnügen: "Wir sind immer als Clique losgezogen, um zu tanzen. Früher hat man ja ständig getanzt, sogar beim Nachmittagskaffee." Einmal nahm sie spontan an einem Wettbewerb teil, zusammen mit einem jungen Mann aus Rumänien. "Wir holten den dritten Preis." Es war damals gerade modern geworden, auf den Tischen in Lokalen Telefone zu platzieren, und Damen an einem anderen Tisch mit einem kurzen Anruf zum Tanzen aufzufordern.

"Schöne Beine waren bei den kurzen Kleidern, die man damals trug, wichtig", sagt sie, "aber die hatte ich ja durch den vielen Sport." Die Damen hätten sich manchmal in einer Reihe aufgestellt, und die Männer hätten auf ihre Beien geschaut. Dann fängt sie leise an, die ersten Zeilen von "Wenn die Elisabeth nicht so schöne Beine hätt'" zu summen.

"Verliebt habe ich mich immer ruck, zuck"

Die Kriegsjahre hat sie relativ unbeschadet überstanden, Berlin verließ Ilse von Guttenberg erst kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee. Sie folgte ihrer Mutter nach Tübingen und begann dort als Einkäuferin an einem Theater zu arbeiten. Das war freilich nicht einfach in den kargen Nachkriegsjahren, als es an allem fehlte. "Einmal mussten bemalte Unterhosen als Kostüme für die Schauspieler herhalten", erzählt sie, "Herrenhosen waren einfach keine aufzutreiben".

Und die Liebe? "Verliebt habe ich mich immer ruck, zuck", berichtet die alte Dame. Aber geheiratet hat sie nie. Nach einer einprägsamen Begegnung mit einem Unbekannten am Strand - "da war zwar nichts, aber das hat mich etwas irritiert" - habe sie sie den Heiratsantrag ihres damaligen Freundes abgelehnt. Und auf einer Faschingsfeier im Deutschen Theater in Berlin hat sie sich einmal in Heinz Riefenstahl verliebt.

Anschaulich und detailliert berichtet Ilse von Guttenberg anderthalb Stunden lang, mit fester Stimme und konzentriertem Blick.

Münchnerin ist Ilse von Guttenberg seit 1956. Die Katzenliebhaberin arbeitete in der Tierklinik am Englischen Garten. Ihre Freizeit füllten Malkurse, Theater- und Opernbesuche und das Lernen von Englisch, Französisch und Italienisch. Vor allem Englisch sollte ihr noch nützen, denn nach der Pensionierung 1969 wurde sie zur Weltenbummlerin.

In Sri Lanka fühlte sie sich wie zuhause

Bis zu ihrem 102. Lebensjahr flog sie jeden Winter nach Sri Lanka, wo sie sich am Ende wie zuhause fühlte. "Ich bin immer mit Neckermann gefahren, das war günstig. Oft war ich im Doppelzimmer mit ganz interessanten Leuten, die ich sonst nie kennengelernt hätte. Einmal mit einer Rinderzüchterin", erzählt Ilse von Guttenberg. Zu anderen Zeiten fuhr sie im Sommer ins Familienhaus nach Ahrenshoop und im September meistens nach Ischia. Auch in Mexiko, Nepal und Kenia war sie. Lieblingsziel blieb aber Sri Lanka, wo sie sich mit Einheimischen angefreundet hat und die Kinder sie einfach "the Lady" nannten. Um ihren Achtzigsten herum "habe ich dann beschlossen, mich mehr mit Jüngeren abzugeben, die mit mir mithalten konnten, und die mich fithalten", sagt sie. Erst mit 103 Jahren ist sie in das Seniorenheim gezogen. "Die Pfleger hier sind sehr nett, vor allem dieser junge Filippino, der ist neu hier", sagt sie und winkt dem jungen Mann zu.

Erkundigt man sich nach ihrem Zustand, antwortet Ilse von Guttenberg, was ihre Großmutter schon zu sagen pflegte: "Man wird halt immer schäbiger." Das heißt in ihrem Fall schwerhöriger und unsicherer auf den Beinen. Aber sie beklagt sich nicht. Für die Fotografin lächelt sie in die Kamera und ruft: "Cheese!" Dann ist schon fast Zeit fürs Abendessen. Was sie sich wünschen würde? Ihr Lieblingsessen - Kaiserschmarrn.

© SZ vom 18.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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