Weihnachten 1945:Und Frieden auf Erden

Lesezeit: 4 min

Ein Christbaum zierte bei der ersten Friedensweihnacht viele Wohnzimmer im Ayinger Land. Darunter fanden sich oft keine oder nur kleine Geschenke. (Foto: Sammlung Esterl)

Der erste Heiligabend nach Ende des Zweiten Weltkriegs: Zeitzeugen aus Aying erinnern sich an ausgebombte Münchner, die zum Betteln auf die Bauernhöfe kamen. Und an Blut- und Leberwürste nach der Christmette.

Von Michael Morosow, Aying

Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seiner Gnade" - wann jemals ist diese Botschaft aus dem Weihnachtsevangelium so tief in die Herzen der Menschen gedrungen wie am Heiligen Abend 1945? Auch wenn das Schlimmste überstanden scheint - die erste Friedensweihnacht im zerstörten und besetzten Deutschland steht auch im Ayinger Land noch ganz im Zeichen des großen Infernos. Viele Frauen hat der Krieg zu Witwen gemacht, viele Kinder haben keinen Vater mehr. 53 Männer aus Aying und seinen Ortsteilen sind auf den Kriegsfeldern geblieben.

Als der Helfendorfer Pfarrer Anton Weilmeier in der Mitternachtsmette in der Pfarrkirche St. Emmeram diese Weihnachtsbotschaft verkündet, sitzt Johann Esterl allein in seinem Haus in Heimatshofen, die geladene Pistole vom Typ 08, Kaliber 9 Millimeter, vor sich auf dem Tisch liegend. Friede auf Erden, das mag ja sein, aber einer muss doch das Haus hüten und, wenn es sein muss, gegen Diebesgesindel verteidigen. Die Angst vor Räubern und Einbrechern, die gerade in den Jahren um die Hyperinflation 1923 während den Mitternachtsmetten zuschlugen, ist mehr als 20 Jahre später noch gegenwärtig. Wenn einer der vielen amerikanischen Soldaten, die sich auch in Heimatshofen häuslich eingerichtet hatten, in der Stunde nach Mitternacht einen Blick in die Wohnstube geworfen hätte, dann hätte der besorgte Familienvater sicher große Probleme bekommen. "Wenn die Amis gewusst hätten, dass mein Vater die Pistole nicht abgeliefert hat, dann wäre es ihm schlecht ergangen", glaubt Martin Esterl, damals zwölf Jahre alt und Ministrant wie seine drei Brüder.

Der heute 82-Jährige kann sich noch gut an die erste Friedensweihnacht erinnern. Wie viele Buben damals war er dem Schabernack nicht abgeneigt, und wenn Pfarrer Weilmeier davon Wind bekommen hätte, dass sein Ministrant während der Mette draußen mit seinen Freunden Leuchtspurraketen in den bewölkten Himmel geschossen hat, wäre es ihm schlecht ergangen. Der Geistliche sei insgesamt ein "ganz a guada Mo" gewesen, aber er habe die Schüler regelmäßig "ganz schee beitlt, des war a ganz a Grober", erinnert sich der passionierte Jäger.

Der alte Lehrer war ein Nazi, der neue sprang noch gröber mit den Kindern um

Nun gut, dass sie "gebeutelt" wurden, das kannten die Buben hinlänglich aus der Schule. Der Lehrer sei ein "fürchterlicher Nazi" gewesen. Esterl: "Von acht bis zehn hat er uns aus dem Völkischen Beobachter vorgelesen, von zehn bis zwölf gab es Fliegeralarm, dann spielten wir im Wald Fangamandl." Der Mann wurde kurz nach Kriegsende aus dem Schuldienst entfernt, sein Nachfolger freilich sprang noch gröber mit den Schülern um: "Der hat uns mit dem Stecken grün und blau gedroschen."

Als aber eine Mutter die Spuren der Züchtigung auf dem Rücken ihres Sohnes gesehen hatte, war es auch um diesen Lehrer geschehen. Am Abend auf dem Weg ins Wirtshaus sei der brutale Lehrer vom Vater des geschlagenen Buben und dessen älteren Bruder abgepasst und "ordentlich hergewatscht" worden, berichtet Martin Esterl. Der 82-Jährige bringt seit geraumer Zeit seine Erinnerungen zu Papier, nicht zuletzt auf Bitte der Ayinger Archivarin Franziska Ahlborn, die auch seine reichhaltige Fotosammlung zu schätzen weiß. Die Bilder hat Onkel Fritz, ein begeisterter Hobbyfotograf, geschossen.

Jeder Tag kamen bis zu 30 Städter zum Betteln

Und Frieden auf Erden. Auch wenn die Städte in Trümmern liegen und es für die Münchner am Notwendigsten fehlt, an Heizmaterial etwa, vor allem aber an Nahrung. In dieser Hinsicht haben es die Ayinger dank der bäuerlichen Struktur ihres Heimatortes besser. Aber sie müssen teilen. Mit den US-Soldaten, die im Ayinger Land wohnen und mit mehr als 1000 Gefangenen, die in beschlagnahmten Scheunen in der Umgebung untergebracht wurden, auch auf dem Esterl-Hof.

Und dann zogen täglich, vor allem in den Tagen vor Weihnachten, bedauernswerte Menschen aus der ausgebombten Großstadt mit einem Blechhaferl von einem Bauern zum anderen, um jeweils einen Löffel Schmalz zu erbetteln. An jedem Tag seien bis zu 30 Münchner, vor allem ausgebombte Frauen, auf dem Hof erschienen, erinnert sich Esterl. Ein Bild hat er heute noch deutlich vor Augen: Jedes Schmalz, das in den Blechtopf gegeben wurde, hatte eine andere Farbe, "das sah richtig greislich aus".

"Wenn der Christbaum nicht gestohlen wurde, dann ist er kein Christbaum"

Nein, Hunger leiden musste Martin Esterl nicht an Heiligabend 1945. Die Mutter hatte Plätzchen gebacken, und ein wenig Obst lag auch auf den Weihnachtstellern. Ein schön geschmückter Christbaum stand im Haus, so gut wie in jedem Wohnzimmer im waldreichen Ayinger Land. Früher habe es geheißen: "Wenn der Christbaum nicht gestohlen wurde, dann ist er kein Christbaum", sagt Esterl. Unter dem Baum aber lag kein Geschenk.

Und Frieden auf Erden. In der bis auf den letzten Platz gefüllten Ayinger Pfarrkirche Sankt Andreas verkündet Pfarrer Johann Hilz das Weihnachtsevangelium. Zu den Besuchern der Weihnachtsmette gehört auch Ferdinand Brinkmann, Pfarrer im Zuchthaus Stadelheim, in dem während der Naziherrschaft 1036 Gefangene hingerichtet wurden, darunter die Mitglieder der Weißen Rose. Als im September 1943 Brinkmanns Münchner Wohnung bei einem Luftangriff schwer beschädigt wurde, räumte Johann Hilz für ihn ein Zimmer im Pfarrheim frei.

Andächtig vernahm auch der kleine Franz Inselkammer, damals gerade zehn Jahre alt geworden, mit seinen Eltern und Brüdern die Weihnachtsbotschaft. In seinem Gesicht sind noch Spuren einer Brandverletzung zu sehen, die er sich im Sommer zugezogen hatte, als er mit einem Brennglas einen Zündkopf auslöste. Die Buben hatten Handgranaten gefunden und diese in einer Kiesgrube hochgehen lassen. Seinem Freund Gustl war ein Splitter ins Bein gefahren.

Nach der Christmette durften die Kinder ausschlafen

Der alte Bräu von Aying, am 14. Dezember hat er seinen 80. Geburtstag gefeiert, erinnert sich noch an einige Details vom Heiligabend 1945. So etwa an Leber- und Blutwürste mit Sauerkraut und Kartoffelpüree, das es nach der Mette zu Hause gab. Und einen Schluck Bockbier durften sie auch nehmen "Wir hatten uns schon den ganzen Tag auf dieses Essen gefreut", sagt Inselkammer heute. Und das Beste sei gewesen, dass die Mette um Mitternacht begann, sodass die Kinder am nächsten Morgen nicht in die Kirche mussten, sondern ausschlafen und spielen konnten, oder sich mit dem Schlitten vom Schmiedberg nach unten stürzen.

Dazu hatten die Ayinger Kinder im letzten Kriegsjahr genügend Zeit gehabt: Schule gab es 1945 wenig für sie, denn auch ihr Lehrer war von brauner Gesinnung gewesen, weshalb er nicht mehr unterrichten durfte. Die Freude währte nicht ewig, Vater Inselkammer engagierte kurzerhand einen Professor, der im Pfarrhof wohnte und die Kinder unterrichtete, bei schönem Wetter im Park. Der Bräu erinnert sich an die vielen amerikanischen Soldaten, die im elterlichen Gasthof wohnten, an die ersten Schwarzen, die er sah, an die ersten Apfelsinen, die auf dem Weihnachtsteller lagen - und daran, dass er 1945 noch fest an das Christkind glaubte.

© SZ vom 24.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: