Politische Lesung:Wachsam und kompetent gegen Hass und Hetze

Lesezeit: 3 min

Kämpferische Demokratinnen: die ehemalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (l.) und Ulrike Leutheusser. (Foto: Claus Schunk)

Die ehemalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger stellt in Grünwald ihr Buch "Unsere gefährdete Demokratie" vor und diskutiert mit dem Publikum über Wege, sie und ihre Repräsentanten besser zu schützen - auch im Netz.

Von Udo Watter, Grünwald

Seine Doktorarbeit hat Karamba Diaby über Schrebergärten in Halle verfasst und die dortige Schwermetallbelastung. Den gebürtigen Senegalesen als Deutschen zu akzeptieren, käme einem Rechtsextremen oder Reaktionären aber trotz dieses sehr "deutschen" Themas wohl nie in den Sinn. Der 60-jährige Geoökologe und SPD-Politiker, der 1985 aus Westafrika in die damalige DDR kam und seit 2013 im Bundestag sitzt, wird immer wieder zur Zielscheibe von Hass und Rassismus. 2020 wird sogar auf sein Wahlkampfbüro in der Innenstadt von Halle (Saale) geschossen.

Diaby ist einer von zehn politisch oder publizistisch engagierten Menschen, mit denen die ehemalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) und ihrer Co-Autorin Gunna Wendt für ihr Buch "Unsere gefährdete Demokratie. Wie mit Hass und Hetze gegen Politiker und Journalisten umgehen" gesprochen haben. Das 2022 erschienene Buch hat die 70-Jährige, die für die FDP viele Jahre im Wahlkreis Starnberg antrat und von 1990 bis 2013 Mitglied des Bundestags war, jetzt in der Bibliothek Grünwald vorgestellt. Hassattacken und Drohungen gegen Politiker und andere Personen in der Öffentlichkeit hätten in den vergangenen drei, vier Jahren deutlich zugenommen, ob im Netz oder im realen Leben - im Juni 2019 wurde Walter Lübke (CDU) von einem Rechtsextremisten ermordet: "Es ist - leider - ein aktuelles Thema", so Leutheusser-Schnarrenberger. "Und es ist kein Nischenthema, sondern eine echte Gefahr."

Bei der politischen Lesung, die ihre Tante, die Grünwalder Historikerin und Journalistin Ulrike Leutheusser mitorganisiert hatte, zeigte sich die Grande Dame der Liberalen von ihrer gewohnt leidenschaftlichen wie eloquenten Seite. Leutheusser-Schnarrenberger hat sich ja nicht nur durch ihren Rücktritt 1996 als Justizministerin wegen des "Großen Lauschangriffs" einen Namen ob ihrer Haltung gemacht, sondern ist nach wie vor sehr engagiert - 2018 wurde sie erste Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen, zudem ist sie Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes.

In Grünwald las sie nun Passagen vor, welche die Erlebnisse einiger der von ihr im Buch Porträtierten beschreiben. Diaby etwa musste erleben, wie die NPD ein Wahlkampfplakat von ihm zum Anlass nahm, auf Facebook höhnisch zu kommentieren: "Deutsche Volksvertreter nach heutigem SPD-Verständnis." Darunter entlud sich in etlichen Kommentaren Hass und Rassismus gegen ihn. Was Diaby dann machte, nämlich in die Offensive zu gehen und zu posten ("An alle Rassisten: I am not your negro"), imponierte Leutheusser-Schnarrenberger: "Ja, Öffentlichkeit gibt uns einen gewissen Schutz." Das zeigte sie auch an anderen Beispielen, wie dem von Marian Offman, der für CSU und SPD im Münchner Stadtrat saß, und der wegen seiner jüdischen Herkunft antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt war, diesen aber mit sichtbarer Courage begegnete. Berührend (und empörend) auch die Fälle von Stefanie Kirchner (Linke), die als Bezirksrätin in Kösching Ziel einer wohl politisch motivierten Attacke aus dem Hinterhalt wurde, die sogar tödlich hätte ausgehen können, und Belit Onay (Grüne), der nach seinem Sieg bei der OB-Wahl in Hannover eine Flut von Hass-Mails bekam. "Das hat was mit mir gemacht. Ich konnte den Sieg gar nicht genießen", wird er zitiert. Unterkriegen lassen hat er sich aber davon nicht.

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Wichtiger Zuspruch aus der Bevölkerung

Eine repräsentative Demokratie, deren Repräsentanten zunehmend und unverhohlen angegriffen werden - zwei Drittel aller deutschen Kommunalpolitiker wurden schon Opfer von Drohbriefen - ist gefährdet. Das treibt Leutheusser-Schnarrenberger um, es gehe darum, "Gesicht zu zeigen", auch als Zivilgesellschaft wach zu sein und aktiv Unterstützung zu geben. Für die von Hass Betroffenen sei es wichtig, als Reaktion Zuspruch aus der Bevölkerung zu bekommen, wie: "Lassen Sie sich nicht einschüchtern!" oder "Machen sie weiter!". Oder wieder gewählt zu werden wie Karamba Diaby (2021 hat er das Bundestags-Direktmandat gewonnen). Gleichwohl seien, auch durch den Einzug der AfD in den Bundestag, die "Grenzen des Sagbaren" verschoben worden, so Leutheusser-Schnarrenberger. Überdies nehme die Dreistigkeit der Beleidiger und Hass-Agitatoren zu, die sich teils nicht mehr scheuten, Klarnamen und Adresse anzugeben.

Bei der anschließenden Diskussion ging es um wesentliche Fragen: Das Verhältnis von Freiheit und Meinungsvielfalt zu Reglementierung und Sicherheit: Wie wehrhaft darf (oder muss) eine gefährdete Demokratie sein, auch und besonders im Netz und an anderen Medienfronten? Dass die russischen Staatsmedien RT (früher Russia Today) und Sputnik, die als Propaganda-Instrumente betrachtet werden, jetzt in der EU verboten sind, sei wohl gerechtfertigt. "Aber eigentlich kann uns das nicht gefallen: Sender abschalten", meinte Leutheusser-Schnarrenberger. Die Pflicht zu Klarnamen im Internet sei weder durchsetzbar noch in autokratischen Staaten wünschenswert, wo Kritik teils nur anonym artikuliert werden könne.

Sichtbar Lust bereitete ihr die ein oder andere Diskussion mit Elftklässlern des Gymnasiums: Heraus kam ein anregender Austausch über digitale Echokammern, Medienkompetenz, Transparenzpflicht von Tech-Konzernen, IT-Ethik oder die mangelhafte Kompetenz der Polizei im Bereich der Online-Kriminalität. Wie sagte Bibliotheksleiterin Gabriele Oswald am Ende: "Ich hätte mir zwar mehr Publikum gewünscht. Aber für den heutigen Abend gilt eben: mehr Qualität als Quantität."

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