Patienten-Theater:Ein Fahrrad namens Rosinante

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Regisseur Bernd Wengert inszeniert mit Patienten und Mitarbeitern der forensischen Abteilung im Haarer Klinikum eine fröhlich, lebensbejahende Version des Don Quijote.

Von Valérie Nowak, Haar

Der rote Vorhang bewegt sich, es blitzen Füße hervor, die ungeduldig auf und ab laufen. Plötzlich brandet aus dem Vorhang Applaus heraus und hallt von der Bühne durch den Saal. Aus dem roten Samt tritt Bernd Wengert, im weißen Trenchcoat läuft er die Treppe herunter. Noch eine halbe Stunde, dann fällt der Vorhang für das Stück "Don Quijote de la Mancha - Der Ritter von der traurigen Gestalt".

Der Saal ist schon gut gefüllt. Doch eine Theateraufführung wie jede andere ist die Veranstaltung im Gesellschaftshaus des Isar-Amper-Klinikums in Haar am Freitagabend nicht. Dass die Programmhefte fehlen, ist nur ein kleiner Hinweis. "Berührungsängste darf ich nicht haben, weder als Regisseur noch als Schauspieler, sonst ist man in seinem Beruf falsch", erzählt Bernd Wengert.

Wengert ist der Regisseur, zum neunten Mal erweckt er mit der Forensischen Abteilung ein Stück auf der Bühne zum Leben. In der Abteilung werden Menschen psychiatrisch behandelt, die ein Gericht als gemeingefährlich eingestuft hat, aber durch ein psychiatrisches Gutachten gelten sie als nicht oder nur vermindert schuldfähig. Er möchte, dass das Ensemble aus Patienten und Mitarbeitern seinen Spaß hat: "Ich will jeden dort abholen, wo er ist. Es gibt Menschen, die haben einfach den Kick zum Schauspielern, ich kitzle das nur heraus", sagt er.

Seit sechs Wochen bereitet sich die Gruppe auf den Auftritt vor, sieben Stunden am Tag probten die Patienten und das, erzählt Wengert, bringe sie an ihre physischen und psychischen Grenzen. Durchzuhalten, das sei eine große Herausforderung. "Es gibt immer wieder magische Momente, in denen es Klick macht, da geht eine Tür auf. Das steuere ich nicht, das machen die selber. Wenn sie fühlen, was sie spielen und es tatsächlich eine Figur wird", sagt er über die Proben.

"Ich kenne ihre Diagnosen nicht. Das geht mich auch nichts an"

Die erste Aufführung mit "Yellow Submarine" liegt nun acht Jahre zurück, seitdem zieht das Theater immer größere Kreise. Jedes Jahr wartet auf Wengert ein neuer, bunt zusammengewürfelter Haufen. Was ihn genau erwartet, weiß er nie. Vor mehr als dreißig Jahren, noch vor seiner Schauspielausbildung, hat Wengert als Sozialpädagoge gearbeitet, Erfahrungen, auf die er zurückgreifen kann. "Ich kenne ihre Diagnosen nicht. Das geht mich auch nichts an und spielt auf der Bühne keine Rolle", sagt Wengert.

Dieses Jahr sei die Gruppe sehr homogen, erzählt er, wobei er den Mitwirkenden oft sage: "Ihr müsst keine Freunde fürs Leben werden, sondern ein Team". Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die Teil der Truppe sind, proben vor oder nach ihrer Schicht mit. Das Projekt ist eine therapeutische Arbeitsmaßnahme, die es auch an einigen anderen psychiatrischen Kliniken in Deutschland gibt.

Die Bühnenfassung des Romans von Miguel de Cervantes hat Wengert selbst geschrieben, den musikalischen Schwung bringt die Forensik-Band ins Stück, die auch aus Patienten und Ärzten besteht. "Hier entstehen zwei Welten nebeneinander: "Traumwelt und reale Welt", sagt Wengert. Er blickt auf seine Uhr, fünf Minuten vor sechs. Gleich geht es los: "Ich bin gespannt, was passiert. Ich weiß auch nicht, wie die gerade drauf sind, was hinter der Bühne passiert."

Wengerts Fassung des Don Quijote ist ein klassisches Musicalstück, das doch so gut zu den Umständen passt, die diese Theateraufführung ausmachen. Der Held verliert sich auf der Bühne in seinen Ritterromanen, stolz präsentiert er sein imaginäres Pferd. In seinen Händen hält er die unsichtbaren Zügel, trabt im Kettenhemd mit Schwert durchs Publikum, das sich sichtlich amüsiert. Das erste Ziel ist eine Kneipe, in der er sein Pferd abgibt: Der Wirt spielt sein Spiel mit und übergibt die Zügel der Magd, mit vereinten Kräften zieht sie von vorne, der Wirt drückt das Pferd von hinten pantomimisch von der Bühne. Die Stimmung in der Kneipe ist ausgelassen. "Baila, baila, baila", singt und trommelt die Forensik-Band, die Darsteller trällern mit und tanzen auf der Bühne.

Wer auf der Bühne Patient oder Mitarbeiter ist, kann keiner erkennen. Und in diesem Moment ist es auch egal, das Publikum lässt sich anstecken und klatscht begeistert mit. Die Musik bringt das spanischen Flair ins Theater, man spürt förmlich die sengende Sonne. Nun ist der magische Moment gekommen, in dem Don Quijote mit den Worten "Gebt das Hühnerfleisch ins heiße Fett, anbraten und auf die Seite legen!" aus einem Rezeptbuch zum Ritter geschlagen wird. Von seinem Barbier entwendet er kurzerhand die Blechschüssel als seinen Helm.

Sein Nachbar und von nun an treuer Begleiter Sancho Panza hat ihm sein neues Pferd Rosinante besorgt: "Frisst nicht viel und braucht kaum Wasser" - mit diesen Worten schiebt er ein Fahrrad auf die Bühne. Panza übernimmt den Esel, einen Cityroller, und beide cruisen durch das Publikum. Mit einem Jutesack auf dem Roller wirkt Panza fast wie ein Berliner Hipster. Es folgen erfolglose Kämpfe, bei denen nur eines sicher ist: Don Quijote geht zu Boden. Sein Knappe kürt ihn zum "Ritter von der traurigen Gestalt" und wartet doch vergebens darauf, Inselkönig zu werden. Auch die Rettungsversuche seiner Nichte bringen Don Quijote nicht zurück auf den Boden der Tatsachen, er bleibt in seiner Traumwelt.

Der Showdown beginnt, der berühmte Kampf gegen Windmühlen. Große Sonnenschirme mit Löchern drehen sich hypnotisierend auf der Bühne, Don Quijote will den bösen Zauberer ein für alle Mal besiegen, holt mit dem Schwert aus. Bei jedem Schlag donnern die Metallbecken zusammen, bis Don Quijote gegen die Mühlen verliert und sein Schwert in hohem Bogen davonfliegt. Er geht zu Boden, liegt in den Armen seines treuen Schildknappen Panza.

Erst jetzt, als Don Quijote stirbt, erkennt er seine Verrücktheit. Panza fleht ihn an, nicht zu sterben: "Die größte Verrücktheit besteht doch darin, das Leben einfach so aufzugeben!" Das Publikum steht begeistert auf, die Band stimmt ein letztes Lied an: "Quisiera vivir, hay nada más prefieraré - Ich möchte leben, es gibt nichts, was ich lieber tun würde." Und damit schließt das Stück, mit einem Ja zum Leben.

Danach wird Wengert eine Zigarre mit dem Oberarzt rauchen, wie immer, mit einem Ja zum nächsten Stück.

© SZ vom 08.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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