Ukraine-Krieg:Zu früh im Friedensmodus

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Im voll besetzten Audimax der Universität der Bundeswehr in Neubiberg spricht der Politikwissenschaftler Carlo Masala über die Zeitenwende. (Foto: Claus Schunk)

Carlo Masala, der aus Talkshows bekannte Welterklärer und Politikprofessor der Bundeswehr-Universität, beklagt im vollen Audimax in Neubiberg, dass die Zeitenwende ausgeblieben sei - und räumt dabei mit manchen Missverständnissen auf.

Von Martin Mühlfenzl, Neubiberg

Für Carlo Masala ist es ein Heimspiel. Seit mittlerweile 16 Jahren lehrt und forscht der gebürtige Kölner an der Universität der Bundeswehr in Neubiberg, das große Audimax ist ihm also bestens vertraut und gewissermaßen seine Bühne. Dennoch hat sich in den vergangenen eineinhalb Jahren etwas verändert: Der 55-jährige Politikwissenschaftler ist seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine zu einem der gefragtesten Welterklärer des Landes geworden. Die Professorentätigkeit muss zugunsten von Auftritten in Talkshows oder der Aufzeichnung eines Podcasts so manches Mal zurückstehen. "Vorher hattest du ein eher normales Professorenleben", sagt daher sein Kollege Friedrich Lohmann, Professor für evangelische Theologie, am Donnerstagabend im voll besetzten Audimax, als er Masala dem Publikum vorstellt. Und der nickt kaum merklich in dem Wissen, dass der 24. Februar 2022 auch für ihn persönlich eine Zeitenwende darstellte.

An diesem Abend aber geht es um die von Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag drei Tage nach Beginn des Angriffskriegs ausgerufene Zeitenwende. Aber ist die inzwischen auch wirklich eingetreten? "Ich könnte das Thema ganz schnell abmoderieren", sagt Masala. "Wir haben eigentlich gar keine richtige Zeitenwende. Wir haben Elemente davon." Nur wischt er das Thema natürlich nicht vom Tisch, sondern er beginnt zu erklären, denkt laut zurück an die Rede, die Scholz am 27. Februar 2022 im Bundestag hielt: "Wenn man sich die Rede durchliest, spricht der Bundeskanzler sechs, sieben Mal davon. Aber immer bezogen auf den russischen Angriffskrieg." An keiner Stelle aber habe Scholz von "einer Zeitenwende in Deutschland" gesprochen, so Masala. "Das haben wir alle daraus gemacht, obwohl sie so nie angekündigt war. Jetzt müssen wir damit leben."

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Das löst im Publikum, darunter viele Jüngere in Uniform, ein wenig Verblüffung aus, die der Professor schnell auflösen kann. "Die Zeitenwende ist ein sehr unglücklicher Begriff. Die Älteren unter uns werden wissen, dass wir in den letzten Jahrzehnten zwei bis drei Zeitenwenden hatten." 1990 und der Zusammenbruch des Ostblocks, die Terroranschläge am 11. September 2001, die russische Annexion der Krim 2014. "Und immer hieß es: Nichts wird je wieder so sein, wie es war. Das hören wir ständig - der Begriff ist etwas abgenutzt", befindet Masala.

Dass die Deutschen aber Krise und Zeitenwende können, sei in den ersten Wochen und Monaten nach Beginn des Krieges zu beobachten gewesen - und ist es in Teilen auch heute noch. Binnen kürzester Zeit habe die deutsche Politik lange geltende Gewissheiten in der deutschen Sicherheits-, Außen- und Verteidigungspolitik abgeräumt: Plötzlich stand mit dem 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr Geld bereit, plötzlich war es möglich, Waffen in ein Kriegsgebiet zu liefern. "Das war im Krisenmodus", sagt Masala.

Analyst der Sicherheitslage: Politikprofessor Carlo Masala bei einem Vortrag. (Foto: Claus Schunk)

"Aber spätestens im Mai war klar: Die Russen werden Kiew nicht einnehmen. Im Juni zogen sich die Russen zurück", blickt Masala auf das vergangene Jahr und damit eine kleine Zeitenwende zurück. Denn dieser Moment ist für ihn entscheidend, warum es in der deutschen Sicherheitsarchitektur tatsächlich keine Zeitenwende gegeben hat. "Weil der Druck raus war, dass die Russen kurz vor dem Baltikum stehen." Von da an sei die deutsche Politik wieder in den "Friedensmodus" zurückgefallen, seitdem stockten Großprojekte. "Weil die deutsche Bürokratie, die deutsche Politik, das deutsche Parlament mehr Angst vor dem Bundesrechnungshof haben als vor dem russischen Militär."

"Kriegstüchtig" sein muss nach Ansicht Masalas nicht nur die Bundeswehr

Dass es aber auch anders gehen könne, zeige ein Beispiel aus der Energiepolitik. "Innerhalb von acht Monaten hat es die BRD geschafft, ein LNG-Terminal zu organisieren. Und jeder, der sich auskennt, weiß, dass die Kinder ihrer Kinder dieses Terminal in Friedenszeiten nie gesehen hätten", betont der Sicherheitsexperte und liefert selbst die Erklärung: Die steigenden Energiepreise und die Angst vor einem sogenannten Wutwinter hätten dazu geführt, das Bund, Länder und Kommunen alle Bedenken zur Seite geschoben haben. "Das war nur möglich, weil es eine konkrete Bedrohungsvorstellung innenpolitischer Natur vor schweren Zerwürfnissen gab."

Nur was heißt das für die Zeitenwende, respektive wird es diese überhaupt noch geben? "Bis heute gibt es ein völlig falsches Verständnis, was Verteidigung im 21. Jahrhundert bedeutet. Wir reduzieren das immer auf die Bundeswehr", sagt Masala. "Unser Staat wird aber auch durch Desinformation bedroht. Unsere kritische Infrastruktur ist gefährdet, wir werden bedroht von der Unterstützung oder Finanzierung extremistischer Parteien." Wenn Verteidigungsminister Boris Pistorius sagt, Deutschland müsse kriegstüchtig und wehrhaft sein, meint er nach Auslegung Masalas: "Die Menschen müssten sich bewusst werden, dass diese Gesellschaft es wert ist, verteidigt zu werden. Das ist der Kern der Zeitenwende."

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