Im Dialog mit der SZ:Viel Kommentar

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Es juckt mal wieder in den Fingern: Leserbriefe schreiben ist für Manfred Jagoda eine Leidenschaft, die er, trotz mehrfacher Versuche, sie sich abzugewöhnen, regelmäßig pflegt. Die Suche nach feinen Formulierungen bereitet ihm Spaß - und wenn eines seiner Schreiben erscheint, ist er durchaus stolz. (Foto: Catherina Hess)

Wenn ihn ein Zeitungsartikel erzürnt, ergreift oder erheitert, setzt sich der Ismaninger Manfred Jagoda an seinen Laptop und tippt einen Leserbrief - durchschnittlich einmal pro Woche. Beim Schreiben wandelt sich die Wut meist in Freude und Lust am Wortspiel.

Von Patrik Stäbler, Ismaning

Neulich hat es Manfred Jagoda mal wieder in den Fingern gejuckt - und Schuld war Christoph Kolumbus. In Anlehnung an den Seefahrer hatte die Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG) ihr Ausflugsangebot für Schulkinder auf den Namen KolumBus getauft, was eine Initiative namens Cambio anprangerte. Eingedenk der Rolle von Kolumbus als Wegbereiter von Völkermord und kolonialer Expansion forderte die Gruppierung eine Umbenennung des MVG-Angebots, wovon Manfred Jagoda bei seiner täglichen Frühstückslektüre der S üddeutschen Zeitung erfuhr. "Ich hab' das ziemlich blödsinnig gefunden", erzählt der 62-Jährige an seinem Wohnzimmertisch in Ismaning. Und so tat er das, was er oft tut, wenn ihn ein Zeitungsartikel erzürnt, ergreift oder erheitert: Jagoda setzte sich an seinen Laptop und tippte einen Leserbrief.

"Es ist meistens so, dass ich erst mal erregt bin, wenn ich mit dem Schreiben anfange", sagt der Mann mit den kurzen Haaren, dem silbernen Stecker im Ohr und den wachen Augen, aus denen der Schalk blitzt. Doch je länger er an einem Leserbrief sitze, desto mehr wandle sich die Wut in Freude, erzählt Jagoda, der mitunter mehrere Stunden an seinen Worten feilt. "Das geht dann zunehmend in die humorvolle Schiene. Und wenn ich irgendwann beim Lesen selber schmunzeln muss, ist das schon die halbe Miete." Oder mit den Worten von Joachim Ringelnatz ausgedrückt, die Jagoda fast so gerne zitiert wie den von ihm verehrten Karl Valentin: "Humor ist der Knopf, der verhindert, dass einem der Kragen platzt."

"Mein erster Leserbrief war irgendwas zu Boris Becker."

Im Fall des KolumBus schlug der Ismaninger vor, die Straßen und Plätze in München kurzerhand mit Zahlen und griechischen Buchstaben zu benennen - so wie es die WHO mit Virusmutanten à la B.1.617.2 (Delta) handhabt. "Würde die Stadt den Kolumbusplatz künftig beispielsweise in Omega.1.4.9.2 umbenennen, wären neben der Initiative Cambio auch all jene besänftigt, die nach über 500 Jahren die Schattenseiten des Seefahrers entdeckten", schrieb er. Seine Zuschrift fand sich später auf der Leserbriefseite der SZ wieder, wo Manfred Jagoda freilich nicht zum ersten Mal auftauchte.

Kein Wunder, schließlich schreibt er eigenen Angaben zufolge mindestens einmal die Woche an die Redaktion - und das seit vielen Jahren. Begonnen habe es Anfang der 1990er, erzählt Jagoda. "Mein erster Leserbrief war irgendwas zu Boris Becker, so genau weiß ich das nicht mehr." Zunächst richtete er seine Schreiben an die Abendzeitung, die er bis heute liest. Seitdem er jedoch 2014 die SZ kennen und lieben lernte, bedenkt er auch deren Redaktion mit seinen Zuschriften - und das nicht zu knapp. Dabei habe er dem Leserbriefschreiben schon mehrfach abschwören wollen, oftmals zum Jahresende, erzählt er. "Aber dann lese ich am Neujahrstag wieder was in der Zeitung, und schon sind die Finger auf der Tastatur."

Mit seiner Leidenschaft ist Jagoda keineswegs allein. "Wir haben Leserinnen und Leser, die schreiben uns bis zu sechs Leserbriefe - jeden Tag", sagt Tom Soyer, der als SZ-Leserredakteur für die Leserbriefseite der Zeitung verantwortlich ist. Ihm zufolge erreichen allein die Redaktion in München mehr als 50 000 Zuschriften im Jahr; dazu kommen dann noch die Leserbriefe an die Lokalteile. Das Gros der Schreiben erreiche die SZ inzwischen per Mail, so Soyer, aber auch Briefe landen noch bei der Zeitung, und gelegentlich sogar Faxe. Die meisten Zuschriften - circa 43 000 im Jahr - drehen sich um überregionale Themen. Auf Artikel aus Bayern, München und der Region entfallen derweil etwa 8000 Leserbriefe. Und was augenfällig sei, so Soyer: "Seit Corona bekommen wir deutlich mehr Zuschriften."

Wie man aus dieser gewaltige Masse jene Briefe auswählt, die in der gedruckten Zeitung erscheinen? "Es geht nicht darum, was uns gefällt oder unsere Meinung widerspiegelt", betont Soyer. Vielmehr versuche die SZ Leserbriefe zu veröffentlichen, "die ein Thema weiterführen oder ergänzen, sodass einem idealerweise neue Aspekte aufgezeigt werden". Zudem berücksichtige er bei der Auswahl auch das Meinungsbild aller Zuschriften: "Wir versuchen, dass das dem Proporz entspricht", sagt Soyer. Abgesehen davon, dass Leserbriefe einen beliebten Lesestoff darstellen, seien sie auch für die Arbeit der Redaktion wichtig, findet Soyer. "Das ist eine wertvolle Rückkopplung und gewinnbringend für unsere Arbeit. Deshalb bekommt jeder Autor alle Rückmeldungen zu seinen Artikeln zu Gesicht - und soll sie möglichst beantworten."

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Auch Manfred Jagoda aus Ismaning erhält auf seine Leserbriefe regelmäßig Rückmeldung - aus der SZ-Redaktion, aber auch von Leserinnen und Lesern. Als er nach einem Störfall im Garchinger Forschungsreaktor etwa schrieb, dort gehe es zu wie bei Loriots Familie Hoppenstedt, habe ihn der Technische Direktor des FRM-II angerufen - "der aber sehr freundlich war", betont Jagoda.

Etwas schärfer fiel dagegen eine Reaktion aus dem Ismaninger Rathaus aus, die ihn nach einem anderen Leserbrief erreichte. Darin hatte sich Manfred Jagoda über die gemeindlichen Regelungen zur Dicke von Grabsteinen mokiert - ihm zufolge "wahlweise ein schwarzhumoriger Schildbürgerstreich oder ein Konjunkturprogramm für das örtliche Steinmetzgewerbe". Gar nicht zum Lachen fand das ein Rathausmitarbeiter, der ihm einen zornigen Brief schrieb, erzählt Jagoda. "Der hat sich offenbar ordentlich auf den Schlips getreten gefühlt."

Bleibt die Frage, was den gelernten Maschinenschlosser, der vor seiner Altersteilzeit bei einer Versicherung arbeitete, zu seinen Schreiben antreibt? "Mir geht's nicht darum, irgendjemand von meiner Meinung zu überzeugen", sagt Jagoda. Vielmehr seien es schlicht der Spaß und die Freude am Schreiben, am Spiel mit den Worten oder an einer besonders gelungenen Formulierung. Und natürlich - "so eitel ist man doch", sagt er - sei er stolz, wenn eines seiner Schreiben in der Zeitung veröffentlicht werde.

Und so wird der Ismaninger wohl auch in Zukunft nicht auf den Rat seiner Ehefrau hören, sich statt seinen Leserbriefen lieber der Enkelin oder dem Garten zu widmen. "Für mich", räumt Manfred Jagoda ein, "ist das ein lieb gewonnenes Hobby geworden".

© SZ vom 11.09.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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