Werkschau:Sehenswerter Dialog mit der Betonoptik

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Die weich und fließend wirkenden Stoffe, die Patricia Lincke zu Wandarbeiten arrangiert, sind Silikonfäden aus der Heißklebepistole. Diese kontrastieren versiert mit dem Sichtbeton im Gräfelfinger Rathaus. (Foto: Florian Peljak)

Der Kunstkreis Gräfelfing zeigt in seiner aktuellen Ausstellung Wandreliefs, die ihre Ästhetik speziell im Kontext der nüchternen Gesamtarchitektur des Rathauses entfalten. Obgleich die Arbeiten durch die Vielfalt ihrer Stofflichkeit zum Anfassen reizen, gilt das Motto: "Don't touch!"

Von Annette Jäger, Gräfelfing

Der Gräfelfinger Bürgermeister, seine Assistentin im Vorzimmer, die Organisatorinnen der Kunstausstellung, der Künstler - alle starren auf das Werk, das da vor dem Aktenschrank lehnt, gleich rechts neben dem Büro des Rathauschefs. Es zeigt ein Stück Blumenbeet und ein bisschen Rasenfläche, aus gesammelten Naturmaterialien arrangiert und aufgeklebt, aus der Ferne einer Fotografie täuschend ähnlich. Im Vordergrund des Werks irritiert eine Tierfalle - ein dunkles, tiefes Loch, locker überdeckt mit einem Geflecht aus Ästen. Doch die Betrachter starren auf den Aktenschrank. Der stört. Wird das Bild auf den Schrank gestellt, ist es viel zu hoch. Das Werk müsste besser auf dem Boden stehen, auf dieser Höhe und aus der Distanz zieht es Betrachter förmlich in das Bild hinein, tief runter ins Loch.

Ob der Bürgermeister einverstanden ist, den Aktenschrank zu verschieben? Begeistert ist Peter Köstler nicht, aber wenn es der Kunst dient, dann bitte, "versuchen sie es". Das kleine Treffen vor dem Chefzimmer steht sinnbildlich für die Herausforderungen, die mit der aktuellen Ausstellung "Don't touch. Material im Dialog" des Kunstkreises Gräfelfing, einhergehen. Das Rathaus ist nun mal keine Galerie. Nirgends gibt es weiße Wände, auch keine kunstgerechte Beleuchtung. Überall sind Türen, Säulen, Schränke, Verwaltungstafeln. "Ist halt kein White Cube hier", stellt der Künstler lapidar fest. Ihn stört's nicht.

In Nachbarschaft von Tür und Verwaltungstafel: Auch die Objekte von Nena Cermak dialogisieren mit dem Raum. (Foto: Florian Peljak)

Kunst in der Gemeinde findet selten am idealen Ort statt. Es gibt hier keine Räume, die eigens dafür gemacht sind, Bilder, Objekte oder Skulpturen in Szene zu setzen. Es bleibt immer ein Kompromiss. Oder man macht es wie die Kuratorinnen des Kunstkreises, die aus der Widrigkeit eine Absichtserklärung gemacht haben: Sie haben sich vom Rathausbau zur Ausstellung inspirieren lassen. Das denkmalgeschützte Gebäude ist ein Paradebeispiel des Brutalismus mit viel Sichtbeton. So entstand die Idee, eine Ausstellung mit Werken zu machen, in denen Materialien in Dialog mit dem Beton gehen und dabei gerne Kontraste aufzeigen, erläutert Kathrin Fritsche, Vorsitzende des Kunstkreises, das Konzept. Und auch die zweite Vorgabe der Kuratorinnen orientiert sich am Ausstellungsort: Es sollen Wandreliefs gezeigt werden, denn für Skulpturen ist kein Platz.

Hingucker im Erdgeschoss: Die Bilder von Fahar Al-Salih sind indes keine zum orientalischen Mosaik zusammengesetzte Tonkacheln, sondern lackierte Spülschwämme. (Foto: Florian Peljak)

So ist eine ausgesprochen abwechslungsreiche Schau mit Werken von 20 Künstlerinnen und Künstlern aus München und der Region, aus Berlin, Karlsruhe, Stuttgart und Österreich entstanden, die immer wieder überrascht: Holz, Stoff, Draht, Papier, Pappe, Stein, Wolle, Fasern, Naturmaterialien und Kunststoffe erscheinen in völlig neuem Kontext und fordern zum genauen Hinschauen und Entdecken auf. Denn auf den ersten Blick ist hier nur wenig so, wie es scheint. Das geht gleich im Erdgeschoss los, mit der Arbeit von Fahar Al-Salih. Was aussieht wie glasierte, zum orientalischen Mosaik zusammengesetzte Tonkacheln, sind in Wirklichkeit lackierte Spülschwämme. Auch die so weich und fließend wirkenden Stoffe, die Patricia Lincke zu Wandarbeiten arrangiert, sind tatsächlich Silikonfäden aus der Heißklebepistole, die sie einfärbt, schichtet und verwebt, bis sie eine textile Optik erhalten. Immer wieder ist man als Betrachter geneigt, ganz nah an die Werke heranzutreten, um zu erkennen, woraus sie gemacht sind und dann wieder einen Schritt zurückzugehen, um die Wirkung zu erfassen.

Macht Lust, in das Bild respektive den Wald hineinzusteigen: Oliver Westerbarkeys raffiniertes Naturbild. (Foto: Florian Peljak)

So funktionieren auch die Naturbilder von Oliver Westerbarkey, die er Dioramen nennt. Nur noch einen Schritt weiter und man steigt in das Bild und steht mitten im Wald. Auf manche der drapierten Ästchen der Naturszenerien setzt er Lichtpunkte, in dem er die Rinde etwas abkratzt, so entsteht Tiefe. "Es geht mir um den Seheindruck, ich baue den natürlichen Eindruck des Sehens nach", erläutert der Künstler. Mit der Wahrnehmung spielen auch die Porträts aus Drahtgeflecht von Sinan von Stietencron aus Gräfelfing. Mit einer einzigen durchgehenden Linie aus Draht schafft er ganz reduzierte und dabei charakterstarke Gesichter, die aus dem Bilderrahmen hervortreten. Im Lichteinfall wirft das Drahtgeflecht einen Schatten, ein zweites Gesicht, ein Doppelporträt entsteht und je nachdem, welchen Blickwinkel der Betrachter vor dem Werk einnimmt, verändert sich der Ausdruck der beiden Gesichter.

Susanne Thiemann hängt ihre geflochtene Wandarbeit "Daydream" auf. (Foto: Florian Peljak)

Besonders sticht bei dieser Ausstellung wieder hervor: das meisterhafte handwerkliche Können der Künstlerinnen und Künstler, das detaillierte Beherrschen des Materials wie etwa bei Susanne Thiemanns geflochtener Wandarbeit "Daydream". Faszinierend ist die Machart der Tapisserien von Felix Haspel, früherer Professor für Textilkunst an der Akademie in Wien. "Malerei mit Wolle" nennt er seine Technik, bei der er am Webstuhl einen imaginären Pinsel führt und eindrucksvolle Teppichbilder schafft, die wie Gemälde anmuten. Genauso präzise beherrscht Itamar Yehiel aus Berlin die Stickkunst. Aus zarten, feinsten Nadelstichen entstehen Ästchen und Herbstblätter, die sich in kleinen weißen Rahmen an die Betonwände des Rathauses schmiegen, als hätte der Wind sie dorthin getragen. Yehiel verleiht den Naturobjekten Volumen und löst sie vom Stoff, auf den üblicherweise gestickt wird. Alle Arbeiten im Rathaus vereint eine erstaunliche Ästhetik.

Ein Herbstblatt schmiegt sich an die Wand: Filigrane Stickkunst von Itamar Yehiel. (Foto: Florian Peljak)

Gerne möchte man hier nicht nur sehen, sondern am liebsten alles anfassen, erfühlen, um das Material in seiner ungewohnten Erscheinungsform zu erkennen. Das haben die Ausstellungsmacherinnen erahnt, nicht umsonst haben sie die Kunstschau "Don't touch" genannt. Der visuelle Genuss ist freilich bereichernd genug.

Die Ausstellung dauert bis Sonntag, 12. Mai, und kann besucht werden donnerstags bis sonntags von 16 bis 19 Uhr sowie zu den Öffnungszeiten des Rathauses, Ruffiniallee 2.

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