Kreis und quer:Wer tanzt, sprengt Fesseln

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Party machen und sich rhythmisch bewegen, erfordert auch ein wenig Kontrollverlust. Das sollte ohne öffentlichen Empörungssturm möglich sein - ob in Finnland, Baierbrunn oder Garching.

Mitunter ist es von Vorteil, wenn sich der Mensch der Kontrollfunktion seines Hirns entledigt. Oder sanfter formuliert: In gewissen Situationen ist Denken nicht der Weisheit letzter Schluss. Wenn ein Stürmer, etwa Mathias Fetsch vom Fußball-Regionalligaprimus SpVgg Unterhaching, allein auf den gegnerischen Torhüter zurennt, sollten nicht allzu viele Ideen zwischen seinen Synapsen hin und her springen. Hamletisches Grübeln ("Sein oder Nichtsein") führt in der Regel auch nicht zu Sternstunden des Geschlechtsverkehrs, und wer sich zu viele Gedanken macht, wie er die harte Tür eines Nachtclubs überwindet ("Rein oder Nichtrein"), wird den Türsteher mit seiner unsicheren Körpersprache vermutlich nicht überzeugen.

Dabei heißt es gerade "Never miss a chance to dance". Unter diesem Motto unterstützen skandinavische Frauen mit Posts und Fotos in den sozialen Medien die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin, die wegen eines an die Öffentlichkeit gelangten Party-Tanz-Videos in die Kritik geraten ist. Die berühmteste Band des Nachbarlands Schweden hatte zwar mit "Dancing Queen" ihren größten Erfolg, aber eine Politikerin in höchstem Amt und Würden wollen manche so enthemmt und flirtatious dann doch nicht sehen.

Im Landkreis München gibt es zwar schon lange keinen legendären Hallen- und Konzertclub mehr wie die 1992 geschlossene Theaterfabrik in Unterföhring, aber Möglichkeiten, das Leben mit wilden oder coolen Dance-Moves zu feiern, finden sich auch heute noch genug. So ist Garching zu einer Art Festival-Hotspot für elektronische Musik avanciert, nach zehntausenden Besuchern bei "Schall im Schilf" im Juli werden an diesem Samstag die tanz- und feierlustigen Massen bei "Back to the Woods" am Forschungszentrum erwartet. Wer zu wummernden Bässen und umflort von repetitiv rhythmisierten Klangwolken der Schwere verlustig geht, ist gelöst von den Fesseln der Vernunft.

Hiesige Politiker agieren selten tanzwütig. Landrat Christoph Göbel (CSU) dirigiert lieber ("Tag der Blasmusik"), der Neubiberger Tobias Thalhammer, Vorsitzender der Mittelstands-Union, hat als Schlagersänger immerhin Tanzerfahrung. Das beste Beispiel als Dancing King lieferte Baierbrunns Bürgermeister Patrick Ott, der in Anlehnung an Hugh Grant als britischer Premier im Film "Tatsächlich Liebe" mal durchs Rathaus tanzte, sich dabei filmen ließ, um mittels Video-Challenge Spenden für einen guten Zweck zu sammeln. Mag sein, dass manch strenger Beobachter damals auch dachte, Hüftschwung und Powackeln seien mit der Würde des Amtes nicht vereinbar, der Bürgermeister aus dem Isartal ist aber natürlich keine finnische Ministerpräsidentin. Angesichts der empörten Menschen, die Marins Tanzstil ungesittet finden und sicher auch Schnappatmung bekommen haben, weil Scholz und Habeck im Flieger nach Kanada keine Maske trugen, kommt einem der Gedanke: Herr, lass' Hirn regnen, aber weniger moralinsauren Regen.

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